Holpriger Weg in die Demokratie

Von Redaktion · · 2013/04

Nach der Ermordung des Oppositionspolitikers Chokri Belaid stürzte Tunesien in die Krise. Was ist los im Maghrebstaat? Eine Analyse von Jan Marot.

Die Wiege des Arabischen Frühlings ist in der Krise: Seit der Ermordung des streitbaren, linken Oppositionspolitikers Chokri Belaid am 6. Februar 2013 in Tunis kommt Tunesien nicht zur Ruhe. Belaid, Gründer der Bewegung Demokratischer Patrioten und Mitglied des Nationalen Übergangsrates, war einer der heftigsten Kritiker der Übergangsregierung unter der Führung der moderat-islamistischen Ennahda-Partei. Er war auch der Generalsekretär der Volksfront, eines oppositionellen linken Bündnisses von zwölf Parteien, der auch die Bewegung Demokratischer Patrioten angehörte. Viele sahen hinter der Tat ein politisches Motiv.

Mehr als zwei Jahre nach dem ersten Aufkeimen des „Arabischen Frühlings“ im Dezember 2010, als sich der tunesische Gemüsehändler Mohamed Bouazizi in Sidi Bouzid verbrannte, sorgte dies für eine neue Eskalation der Gewalt.

Kommentatoren kritisieren die Regierungspartei Ennahda sowie ihre Junior-Partner, der liberale Kongress der Republik (CPR) und die sozialdemokratischen Ettakatol: „Ein unnatürlicher Parteien-Eintopf aus Linken, Populisten und Islamisten hat für Verwirrung gesorgt“, analysiert der tunesische Historiker Ridha Tlili.

Aber auch die Gräben zwischen Regierungsparteien und Opposition wurden über die Zeit immer tiefer: Sami Nair, renommierter in Algerien geborener französischer Politikwissenschaftler, kritisiert auch die Volksfront: Neben der nahe liegenden  Opposition zur Ennahda habe das oppositionelle Bündnis unter Belaid auch gegenüber dem mitregierenden liberalen Kongress der Republik einen harten Kurs gefahren. So sei, Nair zu Folge, ein Klima entstanden, das zwangsläufig in Gewalt enden musste.

Premier Hamadi Jebali von der Ennahda schlug nach den Massenprotesten im Februar eine Expertenregierung vor. Seine Initiative wurde abgelehnt, nicht zuletzt aus den Reihen seiner eigenen Partei. Jebali trat daraufhin zurück. Die Ennahda betraute den bisherigen Innenminister Ali Larayedh mit der Bildung einer neuen Regierung – die unabhängige Politiker in den Schlüsselressorts Justiz, Verteidigung, Innen- und Außenpolitik beinhaltet. Das neue Kabinett werde maximal bis Ende 2013 im Amt bleiben, erklärte Larayedh. Dann sei die neue Verfassung fertig und es werde Neuwahlen geben, sowohl für das Parlament als auch für die Präsidentschaft.

Hintergrund

Die Revolution in Tunesien markierte den Anfang des sogenannten Arabischen Frühlings: Angestoßen durch eine Selbstverbrennung des Gemüsehändlers Mohamed Bouazizi breiteten sich im ganzen Land Proteste aus. Der autoritäre Machthaber Zine el-Abidine Ben Ali hielt dem Druck nicht stand. Am 14. Jänner 2011 floh Ben Ali nach 23 Jahren Herrschaft ins Exil nach Saudi-Arabien.

Im Herbst 2011 wurde eine Verfassunggebende Versammlung gewählt – es waren die ersten demokratischen Wahlen im Land. Als klare Siegerin ging die moderat-islamistische Ennahda-Partei hervor. Neben der Ausarbeitung einer neuen Verfassung ist die Versammlung dazu da, die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen zu organisieren. Bis dahin werden von ihr auch die Regierungschefs ernannt.

Wer dieser Tage die Geschicke Tunesiens leitet, hat viel zu tun: Drängende Probleme, wie Korruption, Jugendarbeitslosigkeit und Inflation konnten nicht bekämpft werden. Dafür wird der Ausnahmezustand von Staatspräsident Moncef Marzouki immer wieder ausgedehnt. Das Ancien Regime ist zwar Geschichte, doch gewisse Strukturen aus der Zeit Ben Alis sind weiterhin präsent. „Die Korruption ist geblieben“, sagt etwa die Wissenschafterin Asma Nouira, einst Mitglied der „Rates zur Umsetzung der Revolutionsziele“.

Und: „Sheratongate“ brachte ans Licht, dass sich auch gegenwärtig Regierungsmitglieder bereichern. Die Bloggerin Olfa Riahi deckte auf, dass Ennahda-Außenminister Rafik Abdessalem nächtelang im Sheraton-Luxushotel von Tunis abstieg und Staatsgelder verprasste. Menschenrechtsaktivist Mokhtar Trifi von der Tunisian League for the Defense of Human Rights kritisiert, dass „die Ennahda die Justiz, wie einst Ben Ali, instrumentalisieren“ wolle. Die NGO Human Rights Watch berichtet zudem von Übergriffen von Extremisten – meist handelt es sich um Salafisten – auf KünstlerInnen, JournalistInnen und SchriftstellerInnen.

Viele junge Tunesierinnen und Tunesier träumen angesichts der Situation von einem Leben in Europa. Andere wollen den Glauben an ein neues Tunesien trotz allem nicht aufgeben.

Webtipp:  tobegoodagain.wordpress.com (Blog von Olfa Riahi, in französischer Sprache )

Jan Marot ist freier Journalist deutschsprachiger Tageszeitungen und Magazine für Spanien und den Maghreb. Er lebt in Granada (Spanien).

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