Hundert Prozent Mysterium

Von Nora Aschacher · · 2003/04

Ouidah. Es ist 8 Uhr morgens und ein Dunstschleier liegt über der Stadt am Atlantik, der die Palmen staubig aussehen lässt und den roten Lateritsand blass macht. Quidah gilt immer noch als das Voudou-Zentrum der Republik Benin. Die Mehrheit der 35.000 EinwohnerInnen ist initiiert.
Vor dem Hotel „Chez Pamff“ wartet ein weißer Kleinbus. Aus dem Radio dröhnt eine monotone, ernsthafte Männerstimme. Minutenlang. Célestin, der etwa 50-jährige Chauffeur lauscht aufmerksam. Ein Gebet? Eine Predigt? Ein Ritual? Nein, sagt Célestin, man verliest die Ergebnisse der Kommunalwahlen. Ein weiterer Schritt im Demokratisierungsprozess des westafrikanischen Landes, das als Vorzeigebeispiel für die Region gilt – trotz Korruption, Politskandalen, relativ hohem Bevölkerungswachstum von drei Prozent, Jugendarbeitslosigkeit und einer Armut, die Eltern ihre Kinder verkaufen lässt.
Während im Nachbarland Togo die Wahlen ständig verschoben werden, im Niger und in Côte d’Ivoire Demokratisierungsprozesse immer wieder von Putschversuchen unterbrochen werden, zeigt sich die Entwicklung in Benin seit 1990 stabil. Vielleicht liegt es daran, dass das kleine westafrikanische Land über keine bedeutenden Ressourcen, keine reichen Bodenschätze verfügt, die die Politik bestimmen. Benin hat Baumwolle, Palmöl, Agrarprodukte, den Hafen in Cotonou, der sehr viel Geld bringt, aber das ist es auch schon. „Benins Wirtschaftsprodukt, das Geld bringt, heißt Demokratie“, meint Thomas Lütke Entrup, langjähriger Repräsentant der Konrad-Adenauer-Stiftung in Cotonou. Durch den Demokratisierungsprozess komme internationale Hilfe in das Land.
Célestin wird uns heute zu einer Voudou-Zeremonie fahren. Obwohl er selbst, seine Frau und sein 16-jähriger Sohn Katholiken sind, gibt es keine Berührungsängste gegenüber den Voudou-Ritualen. Célestin kennt, wie die meisten Andersgläubigen, den Voudou-Pantheon mit seinen über hundert Gottheiten und er weiß Bescheid über die einzelnen Schritte der Zeremonien. Damit bestätigt er den gängigen Spruch, der besagt: Von den knapp fünf Millionen EinwohnerInnen des Benin sind 55 Prozent AnhängerInnen animistischer Religionen, 30% KatholikInnen und 15% MuslimInnen, aber 100% glauben an Voudou.
Das heutige Benin gilt als Wiege des Voudou, einer der bedeutendsten afroamerikanischen Religionen mit etwa 60 Millionen Praktizierenden weltweit.

Das Wort „Voudou“ hat in der Sprache der Fon, einer der 60 ethnopolitischen Gruppen im Benin, mehrere Bedeutungen: „Hineinsehen in das Unbekannte“, „die Kraft, die wirksam ist“, „das, was man nicht ergründen kann“, „Mysterium“, „Gott“, „Geist“, usw.
Zu jener Zeit, als das heutige Benin noch „Königreich Dahomey“ hieß, entwickelte sich ein Glaubenssystem, welches das Land bis heute prägt und das durch die Deportation westafrikanischer Menschen als Sklavinnen und Sklaven in die heutige USA und die Karibik exportiert wurde.
Der Voudou überlebte das Königreich, die französische Kolonisation und blieb auch während der marxistisch-leninistischen Regierungsperiode nach der Unabhängigkeit inoffiziell die bestimmende Kultur des Landes.
Nicéphore Soglo etablierte 1996 den Voudou als offizielle Staatsreligion und setzte den 10. Jänner als religiösen Feiertag fest.
An diesem Tag versammeln sich alljährlich am Strand von Ouidah, wo einst die Sklavenschiffe der „Middle Passage“ abfuhren, Politiker, Oberpriester, Könige, Botschafter, Delegationen aus Kuba, Haiti, Brasilien, um die Bedeutung des Voudou zu demonstrieren. Als „Middle Passage“ wird die Route der Sklavenschiffe bezeichnet, die von Westafrika aus über den Atlantik in die Karibik, nach Nord- und Südamerika segelten.

Um den 10. Jänner herum finden auch in vielen Familien mehrtägige Zeremonien mit Opfern, Gesängen und Tänzen für die jeweilige Schutzgottheit statt. Es gibt Hunderte von verschiedenen Gottheiten (vodoun). Die bekanntesten sind Sakpata, mit dem die Pockenerkrankung assoziiert wird, Hêviôsô, der vodoun des Blitzes und des Donners, Legba, Hüter des Hauses und jener vodoun, der die Wege öffnet. Die Gottheiten sind so unterschiedlich und vielfältig wie die Menschen und es sind diese Gottheiten, die eine Verbindung zwischen den Menschen und jener Energie herstellen, die das Universum erschaffen hat.
Célestin fährt uns zum Familientempel des Priesters und international bekannten Tänzers und Choreographen Koffi Koko, dessen Stücke zwar Übertragungen von Ritualen auf der Basis der Voudou-Tradition sind, die aber immer gleichzeitig auch eine zeitgenössische Handschrift erkennen lassen. Für Koffi Koko, der bereits in seiner Kindheit in die Riten rund um Ahnen und Gottheiten eingeführt wurde, ist der Voudou nicht so sehr Religion wie Philosophie. Eine Philosophie, die auf der Anrufung der natürlichen Mächte und Energien beruht, auf der Kommunikation mit den Gottheiten. Eine Kommunikation, die während der Zeremonien über den Tanz erfolgt, in dem die Trance eine wichtige Rolle spielt, wird doch die Gegenwart des vodoun durch die Trance der Initiierten symbolisiert.
„Der Tanz ist unser Gebet“, sagt Koffi Koko, „alle, die am Ritual teilnehmen, verbinden sich mit diesen Energien, um die Kräfte des Einzelnen und der Gruppe zu stärken. Es ist wie ein Gespräch unter Menschen.“
Célestin sitzt während des Rituals unter den ZuschauerInnen. Fragt man ihn, warum er, als Katholik, sich für Voudou interessiere, dann bekommt man eine klare Antwort: „Weil Voudou zu meiner Kultur gehört.“

Wir fahren von Ouidah nach Porto Novo, der Hauptstadt von Benin. Dort lebt und arbeitet Romuald Hazoumé. Er ist durch seine „masques bidons“ bekannt geworden. Alte Plastikkanister, Bügeleisen, Staubsauger, Fotoapparate und diverse Blechteile werden mit Bürsten, Brillen, Bieröffnern, Kaurimuscheln, Federn usw. kombiniert. So entsteht eine Interaktion zwischen Materiellem und Spirituellem, zwischen Tradition und Moderne. Die Kombination afrikanischer Tradition und europäischem Müll ergibt Kunstwerke, die ein Bild der Gesellschaft widerspiegeln. Mit der Verwendung von Alltagsgegenständen für seine „masques bidons“ findet Hazoumé auch einen adäquaten Umgang mit zwei Problemen: dem Mangel an geeignetem afrikanischen Holz und der Überfülle an europäischem Zivilisationsmüll. Denn die Masken gehen zu Höchstpreisen an europäische und amerikanische Sammler, der Müll kehrt also in sein Ursprungsland zurück.
Tradition ist dem Autodidakten, der inzwischen in internationalen Galerien und Museen ausgestellt hat sowie bei der Biennale in Johannesburg und bei der Biennale in Havanna vertreten war, ein wichtiges Anliegen. „Wenn wir nicht wissen, wohin wir gehen, müssen wir wissen, woher wir kommen“, sagt Hazoumé. Und seine Kunst möchte zumindest Antworten auf die Frage geben, woher wir kommen.
Im Fall von Benin ist das ziemlich einfach. Die Basis der Tradition ist die Voudou-Kultur und diese wiederum ist untrennbar mit dem Orakelsystem „Fa“ verbunden. In seiner Malerei, bei der er Naturmaterialien wie farbige Erde sowie Kuhdung mit natürlichen Bindemitteln mischt, verwendet Hazoumé daher auch eine Formensprache, die sich auf die Basissymbole des Fa bezieht.
Das Fa gilt als Basis des Animismus, als Ursprung von allem, als erste Gottheit.
Romuald Hazoumé arbeitet mit dem Fa, nicht aber mit Voudou. Diese Trennung ist ihm wichtig, denn „Voudou ist ein starkes Wort, damit spielt man nicht“ während das Orakel Fa immer „wohlwollend und nett“ sei.
Hier zeige sich auch die Demarkationslinie zwischen Kunst und Religion, meint Hazoumé. Man könne bestenfalls für Voudou, also für einen Gott aber niemals mit Voudou, also mit einem Gott arbeiten. Die „masques bidons“ gehören daher in den Bereich Kunst, auch wenn diese Kunst ihre Basis in der Voudou-Kultur hat.
Zeremonien finden auch in Hazoumés Atelier in Porto Novo statt und zwar dann, wenn die Masken fertig sind. Im Verlauf dieser Zeremonie stellt der Künstler die Frage, ob die Masken „weggehen“ dürfen. Ist die Antwort „ja“, dann wird die Maske nach Sydney, Paris, New York usw. verkauft. Lautet die Antwort „nein“, „dann könnten Sie mir drei Millionen Euro geben und ich würde diese Maske nicht verkaufen“, sagt Hazoumé.
Célestin, der aufmerksam zugehört hat, nickt zustimmend mit dem Kopf.

Nora Aschacher ist verantwortlich für die Ö1 Sendereihe „Radiokolleg“ und bereiste kürzlich Benin.

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