
Erich Hackl auf literarischer Entdeckungsreise im Süden
Im besonders günstigen Fall verkehren sich die Verhältnisse. Dann machen sich die Eltern, lesend, zu Eigen, wovon ihnen die Kinder erzählt haben. Das verjüngt sie in den Augen der Nachkommen – jetzt hat man zum Vater, zur Mutter einen Freund, eine Freundin hinzugewonnen. Der erste Schriftsteller, dessen Kunst wir uns solchermaßen teilten, war Ernesto Cardenal. Ich hatte zu Hause vom nicaraguanischen Dichter erzählt, von Glaube und Politik, Christentum und Revolution, von der Tyrannei Somozas, vom gemeinschaftlichen Leben auf Solentiname, und vielleicht hatte ich meinem Vater auch gesagt, dass es Cardenals Gedichte sogar auf Deutsch gibt. Eines Tages, als ich meine Eltern besuchte, lag es da, das „Gebet für Marilyn Monroe“, ein Auswahlband, unbekannt, wie mein Vater ihn gefunden hatte, vor dreißig Jahren in einer phantasiearmen Kleinstadt, und dieses Buch lag dann über Jahrzehnte im Zimmer meines Vaters, zerlesen, griffbereit, mit einem Papierstreifen dort, wo das Titelgedicht steht, „Herr, nimm dieses Mädchen auf…“.
Seit langem möchte ich dem Dichter sagen, dass ich seine Verse von dem toten Mädchen nicht lesen kann, ohne an meinen toten Vater zu denken, der durch sie lebendig wird, und dass ich ihm dafür danke.
Das Buch „Gebet für Marilyn Monroe“ ist vergriffen. Das gleichnamige Gedicht findet sich in Ernesto Cardenal: Mit Liebe füllen diesen blauen Planeten. Gedichte, Peter Hammer Verlag, Wuppertal 1998, öS 145,-
Erich Hackl lebt als Schriftsteller und Übersetzer in Wien. Zahlreiche Veröffentlichungen, darunter auch Hörspiele und Drehbücher. Zuletzt erschienen: „Entwurf einer Liebe auf den ersten Blick“, Roman, Diogenes, Zürich 1999.
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