Im Schatten Europas

Von Redaktion · · 2017/10

Im November findet der fünfte EU-Afrika-Gipfel statt. Europa beschäftigt sich intensiv mit seinem Nachbarkontinent. Warum die Beziehungen zwischen Europa und Afrika komplexer sind als es scheint, analysiert Dominic Johnson.

Ende November ist es wieder soweit: Die Staats- und Regierungschefs Afrikas und Europas treffen aufeinander, in einem der größten internationalen Gipfeltreffen der Welt. Beim fünften EU-Afrika-Gipfel in Abidjan, der Metropole der Elfenbeinküste an der westafrikanischen Atlantikküste, steht die Migration aus Afrika Richtung Europa im Mittelpunkt und die Frage, wie sie kanalisiert, eingedämmt und reguliert werden kann: Regierungen auf beiden Kontinenten sind damit derzeit allein überfordert. Es ist ein Thema, das Gegensätze in den Vordergrund stellt.

Die EuropäerInnen wollen vermeiden, dass AfrikanerInnen sich in großer Zahl auf den Weg nach Europa machen; die AfrikanerInnen wollen keine passiven Opfer von Abschottung sein. Diese Gegensätze sind deswegen so problematisch, weil Europa und Afrika Nachbarn sind und weil die Geschichte beide Kontinente enger verbindet, als die Politik der Gegenwart es wahrnimmt.

Afrika ist Europas Nachbarkontinent, getrennt durch das Mittelmeer – das ist eine geographische Binsenweisheit. Historisch gesehen allerdings ist das Mittelmeer, wie der Name schon sagt, ein verbindendes und kein trennendes Element. Erkundungen, Migrationen und Eroberungen von einer Seite des Wassers auf die andere sind so alt wie die Menschheitsgeschichte, und keineswegs immer nur von Nord nach Süd. Lange vor den ersten europäischen Großreichen strahlte die Hochkultur des alten Ägypten nach Europa aus, und nach dem Zerfall des Römischen Reiches war der Maghreb eine Wiege der Rechristianisierung Westeuropas.

Timbuktu im heutigen Mali und sein Gold übten im Mittelalter eine ähnliche Faszination auf europäische Reisende aus wie Europas Reichtum heute auf afrikanische MigrantInnen, und in Nordafrika fanden nach der spanischen Reconquista Spaniens Jüdinnen und Juden Zuflucht vor der katholischen Kirche und der Inquisition.

Machtgefälle. Heute allerdings prägt ein klares Machtgefälle die europäisch-afrikanischen Beziehungen: Reichtum im Norden, Armut im Süden. Seit der imperialen Eroberung fast ganz Afrikas durch die europäischen Großmächte Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, als die existierenden afrikanischen Staaten zerschlagen und durch europäische Verwaltungsgebiete ersetzt wurden, geht politische Gestaltungsmacht vor allem von Europa aus. Nicht von ungefähr gilt die Berliner Afrika-Konferenz von 1884/85, als die europäischen Mächte sich untereinander auf gemeinsame Regeln zur Aufteilung Afrikas einigten, gerade unter AntikolonialistInnen bis heute als Schöpfungsakt der afrikanischen Gegenwart.

In allen aktuellen Diskussionen über Gerechtigkeit und Augenhöhe zwischen Europa und Afrika bildet die Kolonialzeit den absoluten Horizont, hinter den niemand zurückblicken mag. Auf dieser Basis haben beide Kontinente versucht, ihre jeweiligen Identitäten neu zu definieren. Die europäische Einigung, die zur Gründung der Europäischen Union führte, war in erster Linie eine Antwort auf die Entkolonisierung: ohne ihre Kolonialreiche fühlten sich europäische Staaten nackt und einzeln nicht mehr stark genug auf der Weltbühne.

Die Einigung Afrikas, vom Panafrikanismus der Befreier über die Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) bis zur Afrikanischen Union (AU), war ebenso ein Versuch, die postkoloniale Zersplitterung zu überwinden.

Postkoloniale Beziehungen. Dabei bleibt der Einfluss der ehemaligen Kolonialmächte in Afrika beträchtlich. Die meisten ehemaligen französischen Kolonien teilen sich bis heute die umbenannte alte Kolonialwährung aus Paris als gemeinsame Währung, und für jedes Land ist die frühere Kolonialhauptstadt maßgeblich prägend für die Ausgestaltung der politischen Kernbereiche der staatlichen Souveränität: Institutionenaufbau, Justiz, innere und äußere Sicherheit. Doch in Bereichen, in denen in Europa die Staaten ihre Politik länderübergreifend bündeln, ist die EU als Ganzes zentral.

Truppeninspektion durch den französischen Administrator, 1920, Französisch-Westafrika.© Cambridge University

Grundlage der Zusammenarbeit sind bis heute die Assoziierungsabkommen zwischen europäischen Mächten und ihren ehemaligen Kolonien, die zuerst 1963 „Yaoundé-Abkommen“ hießen, 1975 „Lomé-Abkommen“ und seit 2000 „Cotonou-Abkommen“. Anders als man meinen könnte, wurden die Zuständigkeitsbereiche dieser postkolonialen Vereinbarungen beständig erweitert, in Lomé auf Handelspräferenzen und in Cotonou auf Ziele wie Freihandel und Förderung von Menschenrechten.

Wurde Lomé noch alle fünf Jahre erneuert, ist Cotonou auf 20 Jahre angesetzt, und die Frage, wodurch es 2020 ersetzt wird, bleibt die eigentliche Kernfrage der europäisch-afrikanischen Beziehungen, der alle anderen Themen – von Freihandel bis zur Fluchtursachenbekämpfung – strukturell untergeordnet sind.

Die vieldiskutierten Freihandelsverträge namens EPA (Economic Partnership Agreements) sind Teil des Cotonou-Abkommens (siehe auch Beitrag auf Seite 11). Wichtigstes Instrument aller Abkommen ist der regelmäßig erneuerte und vergrößerte Europäische Entwicklungsfonds (EEF), finanziert von den EU-Mitgliedsstaaten.

Seine elfte Auflage für den Zeitraum 2015 bis 2020 umfasst stolze 30,5 Milliarden Euro. Über den EEF laufen unter anderem die Dauerfinanzierungen für afrikanische Eingreiftruppen, die als „Friedensfazilität für Afrika“ bekannt sind.

Beziehungen mit der Gesamt-EU. Im Vergleich dazu sind die von den einzelnen EU-Mitgliedstaaten unabhängigen Kooperationsmechanismen der EU mit Afrika eher spärlich und neu. Wichtigster davon ist der Nothilfe-Treuhandfonds (Emergency Trust Fund), der beim EU-Afrika-Gipfel in Maltas Hauptstadt Valletta im November 2015 aufgelegt wurde und über den bis Ende August 2017 über 2,9 Milliarden Euro in Programme der Migrationspolitik in Afrika geflossen sind.

Der Valletta-Gipfel von 2015 fiel allerdings aus dem Rahmen; es war ein Sondergipfel zu dem Thema, das aus europäischer Sicht gerade am meisten drängt: Migration und Flucht (vgl. Beitrag in SWM 9/17, Seite 20). Der reguläre Rahmen des Dialogs zwischen Europa und Afrika ist der EU-Afrika-Gipfel, der erstmals 2000 stattfand, in Kairo. Auf den Gipfeln geht es grundsätzlich um alles. Aber was tatsächlich geschah, zeigt, wie schwierig sich das europäisch-afrikanische Verhältnis gestaltet.

Der geplante Folgegipfel 2003 platzte am Streit darüber, ob der von Europa boykottierte Präsident Simbabwes, Robert Mugabe, teilnehmen darf oder nicht. Erst 2007 ging es weiter, in Lissabon, wo eine „Gemeinsame Strategie EU-Afrika“ verabschiedet wurde, aber keine Einigkeit in Wirtschaftsfragen auftrat. Der dritte Gipfel fand 2010 ausgerechnet in Libyen statt, wenige Monate bevor Großbritannien und Frankreich libyschen Rebellen halfen, Diktator Muammar al-Gaddafi zu stürzen, den man beim Gipfel noch als wichtigsten Abschotter von Migrationsrouten hofiert hatte.

2014 gab es in Brüssel eine vierte Runde, die eine eher wenig beachtete „Road Map“ der Zusammenarbeit in konkreten Einzelbereichen verabschiedete.

Priorität Flüchtlingsabwehr. Im November 2017 soll der fünfte Gipfel in Abidjan in der Elfenbeinküste stattfinden, bei dem es offiziell heißt, dass die Jugend verstärkt einbezogen wird. Die bemerkenswert schwammigen Grundsatzpapiere für Abidjan, die die EU-Kommission im Mai veröffentlichte – als Ziel des Gipfels wird ein „Fahrplan für den Zeitraum 2018-2020“ und eine „engere, vertiefte und stärker handlungsorientierte strategische Partnerschaft“ vorgeschlagen – verbergen aber nur schlecht, dass die Kooperation sich inzwischen weitgehend ins Kleingedruckte der Flüchtlingsabwehr verlagert hat. Europa will heute in Afrika das unvollendete Werk der Kolonialzeit vollenden: die Schaffung von Staaten mit überwachten Grenzen und klaren Staatsbürgerschaftsverhältnissen, in denen alle BürgerInnen wissen, wo sie hingehören, und dort auch bleiben.

Afrikas Prioritäten sind andere, nämlich in erster Linie die ungleichen Handelsbeziehungen. Dass es zwischen beiden Politikfeldern einen engen Zusammenhang gibt, wird gerade in Europa oft übersehen. Innerhalb der EU wird der freie Waren- und Personenverkehr als untrennbare Einheit im Rahmen des Binnenmarkts propagiert, aber für den Rest der Welt soll das nicht gelten.

Zahlreiche Think-Tanks sowohl in Afrika als auch in Europa betonen, dass es neue Impulse nur dann geben kann, wenn der TeilnehmerInnenkreis der Kooperation sich erweitert: Transkontinentale Geschäftsbeziehungen zwischen Unternehmen, zivilgesellschaftliche Vernetzung zwischen Europa und Afrika, intellektueller und kultureller Austausch.

Unaufgearbeitete Geschichte. Zunehmend spielt in Afrikas Blick auf Europa auch die unvollkommene Aufarbeitung der Kolonialgeschichte und ihrer Verbrechen eine Rolle. Reparationen für koloniale Völkermorde, Rückgabe geraubter Kulturgüter, Anerkennung der historischen Verpflichtung Europas gegenüber einst unterjochten Völkern – davon ist in Gipfelpapieren zwar kaum die Rede, aber in den Köpfen spielt es eine große Rolle.

Es ist schwer, sich als gleichberechtigter Partner zu fühlen, wenn man nicht einmal unter menschenwürdigen Bedingungen ein Visum erteilt bekommt.

Europas Umgang mit Afrika ist eben auch die Schattenseite der vielgerühmten europäischen Werte und Identität. Solange Europa seine Beziehungen zu Afrika einfach als technisches Problem behandelt, werden die Kontinente aneinander vorbeireden.

Dominic Johnson ist Afrika-Redakteur und Leiter des Auslandsressorts der deutschen Tageszeitung taz.

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