Im Sog der Göttin

Von Robert Lessmann · · 2003/05

Am 29. Mai ist es fünfzig Jahre her, dass Edmund Hillary und Tenzing Norgay Sherpa als erste Menschen ihren Fuß auf den Gipfel des Mount Everest (8.848 m) setzten.

Schon immer kamen viele PilgerInnen, um Jomo Miyo Lang Sangma zu sehen. Sie ist sehr hübsch. Sie reitet einen roten Tiger und strahlt orangefarben“, erzählt Ngawang Tenzin Zangbu. Er ist Abt des Tengboche-Klosters, das in 3.870 Metern Höhe in Khumbu, dem Sherpa-Land zu Füßen des Mount Everest, liegt. Jomolongma heißt der höchste Berg der Erde in der Sprache der Sherpa, Göttin-Mutter. „Sie ist heilig, Sitz von Jomo Miyo Lang Sangma, einer der fünf Schwestern des langen Lebens. Sie gibt Nahrung“, sagt Tenzin Zangbu.
Bergvölker sind von der Gnade der Berge abhängig – und sie wissen es. Der Himalaya ist neben den Anden die gewaltigste Wetterscheide. Berge sind verantwortlich für Regen und Trockenheit. Ihre Gletscher spenden das lebensnotwendige Wasser auch während der Trockenzeit. Doch Berge sind auch eine permanente Bedrohung. Von Lawinen und Erdrutschen besonders gefährdet sind die Menschen in den jungen, schroffen Gebirgen wie dem Himalaya. Mehr als einmal wurden in den Tälern ganze Ortschaften von Sturzbächen weggespült.
„Den Schuft haben wir erledigt“, soll Hillary nach dem gemeinsamen Gipfelsieg mit Tenzing Norgay trotzig triumphiert haben. Tenzing hat das Geheimnis, wer von den beiden an jenem 29. Mai 1953 als erster auf dem Gipfel stand, nach Jahren gelüftet: es war Hillary. Oder waren doch Irvine und Mallory vor ihm da, die bereits im Jahr 1924 hoch oben auf der tibetischen Nordseite des Berges verunglückten? „Wir waren jedenfalls die ersten, die auch wieder herunter gekommen sind“, sagt Hillary.

Es war die Zeit der Auflösung der Kolonialreiche, als der Wettlauf auf die Achttausender begann. Nepal öffnete im Jahr 1951 seine Grenzen für ausländische BesucherInnen. Nach der Unabhängigkeit Indiens (1947) und der Annexion Tibets durch die Chinesen (1950/51) fürchtete das kleine, isolierte Himalaya-Königreich, von seinen übermächtigen Nachbarn zerrieben zu werden. Acht von zehn der höchsten Berge stehen in Nepal. Expeditionen waren in den 50er Jahren jeweils noch eine nationale Angelegenheit, wurden vielfach straff militärisch organisiert. Die Tradition der kolonialen Inbesitznahme wirkte nach, die Flagge diente als Symbol dafür. Maurice Herzog und Luis Lachenal pflanzten 1950 die „Tricolore“ auf den 8.091 Meter hohen Annapurna. Schneeblind und mit schwersten Erfrierungen kehrten sie ins Basislager zurück. Im Wettlauf um den „dritten Pol“ wurde durch die Öffnung Nepals die leichtere Südseite des Everest zugänglich. Die Nachricht vom Gipfelsieg am 29. Mai wurde bis zum 2. Juni zurückgehalten, dem Krönungstag von Queen Elisabeth II., als die „Times“ mit der Schlagzeile erschien: „Der krönende Triumph“. Der neuseeländische Imker Edmund Hillary wurde für seine Verdienste um Union Jack und Commonwealth zum Sir, hatte aber auf dem Everest bereits auch einen nepalesischen Wimpel dabei, einen indischen und den der UN.
„The Playground of Europe“ heißt Sir Lesley Stephen’s Klassiker über die „Goldene Zeit des Bergsteigens“ im 19. Jahrhundert in den Alpen, als junge Aristokraten das Klettern als spannendere Alternative zur Fuchsjagd betrieben. Aus den Bergbauernburschen, die ihnen den Weg zeigten und Ausrüstung und Proviant zu den Einstiegen der Viertausender schleppten, entwickelte sich eine professionelle Bergführerzunft, die Spitzenalpinisten hervorbrachte. Der Himalaya – und besonders der Everest – wurde im Zeichen der beginnenden Globalisierung zum „Playground of the World“. Der Südtiroler Reinhold Messner stieg als erster auf alle Achttausender und betrat auch am Everest zweimal Neuland: Mit der ersten Besteigung ohne künstlichen Sauerstoff (1978) und mit dem ersten absoluten Alleingang über den Nordostgrat (1980). Die Expeditionen wurden kleiner und individueller. Messner wollte 1978 auf dem Gipfel eine „naive Antwort auf die Seinsfrage“ gefunden haben. Es ging nicht mehr um Nationalfarben, sondern um Auflagen, Einschaltquoten, Sponsorenverträge. Für Nachahmer blieb er unerreicht, wie sehr sie sich auch bemühten, mit immer absurderen Rekorden Aufmerksamkeit zu erheischen.
Der erste Gleitschirmflug vom Gipfel, die erste Skiabfahrt, der älteste (66) und der jüngste (16) Gipfelsieger, der erste Blinde, der erste Gehbehinderte, 88 Besteigungen an einem Tag, kommerzielle Expeditionen für zahlende Kundschaft zwischen 13.000 und 65.000 US-Dollar. Auch mitgeschleppte Satellitentelefone können allfällige Tragödien nicht verhindern, erlauben aber, dass ein letztes Gespräch des erfrierenden Bergsteigers mit seiner Frau daheim doch noch Schlagzeilen macht. Messner kommentierte diese Entwicklung des Bergsteigens am Everest unlängst in einem Beitrag mit dem Titel „Der Gipfel der Aussichtslosigkeit“. Mit einem Vierteljahrhundert Distanz spricht er nunmehr statt von der Seinsfrage von einer Leere im Kopf beim Abstieg 1978.

Der junge Kaji Sherpa kletterte 1998 in achtzehn Stunden vom Basecamp zum Gipfel, gesponsert von der Tuborg-Brauerei. Eine neue Sherpa-Generation versucht sich einen Namen zu machen, um als Führer bei kommerziellen Expeditionen Geld zu verdienen. Nicht am Sinn, aber an der Machbarkeit dieser Schnelligkeitsrekorde zweifelt Ang Rita Sherpa (55) – und er weiß wovon er spricht. Schließlich stand er zwischen 1980 und 1996 für diverse Arbeitgeber zehnmal auf dem Gipfel, immer ohne künstlichen Sauerstoff. Fragt man den „Schneeleoparden“ nach seinen Motiven antwortet er lächelnd: „Sie haben mich verdammt gut bezahlt.“
Nepal ist eines der ärmsten Länder der Welt. Die Hälfte der Menschen lebt unterhalb der Armutsgrenze. Die durchschnittliche Lebenserwartung beträgt 58 Jahre. Nur 27 Prozent der Erwachsenen können lesen und schreiben. Als Sir Edmund Hillary in den 60er Jahren mit seinen „Schulexpeditionen“ westlich-formelle Bildung nach Khumbu brachte, musste sein Postläufer Briefe noch bis Bhaktapur tragen. Weiter als bis zu der 15 Kilometer vor den Toren der Hauptstadt Kathmandu gelegenen alten Königsstadt reichte das Straßennetz noch nicht. Im Rahmen dieser Schulexpeditionen wurde 1964 die Landepiste in Lughla angelegt, die den Zugang zum Khumbu und den Trek zum Everest-Basecamp um eine Woche verkürzt.

Die nepalesische Gesellschaft ist so zerklüftet wie der Himalaya: 36 Volksgruppen (manche Quellen sprechen von bis zu 60) mit eigener Sprache leben dort, von Kastenschranken und sozialen Gegensätzen zerrissen. Die rund 35.000 buddhistischen Sherpa sind nur eine davon im 25-Millionen-Hindu-Königreich. Die „Leute aus dem Osten“, die ab dem Ende des 16. Jahrhunderts die Täler südlich der Himalayakette besiedelten, trotzten der kargen Berglandschaft Buchweizen ab und Kartoffeln, das eine oder andere Gemüse, lebten von Milch und der Wolle ihrer Yaks. Stets bestand auch ein enger Austausch zwischen ihrer alten Heimat, Tibet, und den tiefer gelegenen Tälern des Südens. Der Handel war das zweite Standbein der Sherpa, Angelegenheit der Männer, während sich die Frauen um Haus und Hof kümmerten. Die Waren wurden auf den steilen Gebirgspfaden getragen, von Yaks oder von ihnen selbst.
Durchgangsstation zwischen Tibet und Indien, waren die Nepali stets aufgeschlossen, gastfreundlich und mobil. Häuser entlang der Transitrouten, so genannte „bhattis“, boten den Reisenden Tee, Mahlzeiten und einfache Unterkunft. Als nach der Öffnung für ausländische BesucherInnen erst Expeditionen kamen, dann Trekker in immer größerer Zahl, wurden aus den einfachen „bhattis“ Lodges, die heute auch mit heißer Dusche und Pizza um Gäste werben.

Baburam Rai arbeitet als Träger für Trekking-Gruppen: Als „Sherpa“ würden wir sagen, aber Sherpa ist er eben nicht. Er gehört der Volksgruppe der Rai an. Die Sherpa der Khumbu-Region gehören heute in Nepal zu den Wohlhabenden, sind Besitzer von Trekking-Agenturen, Hotels, Lodges, arbeiten als Hochträger bei Expeditionen oder als Führer von Trekking-Gruppen. Die einfachen Träger kommen aus anderen Volksgruppen und tieferen Lagen. Baburam Rai ist eigentlich Bauer. Reis und Hirse baut er an, doch die Terrassenfelder am Steilhang geben nicht mehr her, was seine Frau und die vier Kinder zum Leben brauchen. Im Frühjahr und im Herbst arbeitet er daher für Trekking-Gruppen. Dreißig Kilo wiegen die Standardlasten: ein Knochenjob. Er bekommt dafür 3,50 US-Dollar am Tag plus Verpflegung, deutlich mehr als ein normaler Lastenträger. Als Landarbeiter würde er nur rund einen Dollar verdienen.
Namche Bazar, auf 3.450 Metern Höhe gelegen, ist der zentrale Handelsort von Khumbu. Noch immer kommen die Yak-Karawanen der TibeterInnen über den 5.716 Meter hohen Gletscherpass Nangpa La hierher zum Markt. Fast zwei Wochen sind sie dazu – hin und zurück – unterwegs. Neben den kunstvollen Teppichen bringen sie heute vor allem Billigtextilien, Plastikgeschirr und andere einfache Konsumgüter aus China mit. Auf den Dächern ragen neben buddhistischen Gebetsfahnen auch Satellitenschüsseln in den Himmel. Während vor wenigen Jahren noch der Postläufer zweimal wöchentlich Briefe hinunter zur Flugpiste nach Lughla brachte, soll es heute in Namche Bazar und Umgebung 120 Telefonanschlüsse geben. TrekkerInnen und BergsteigerInnen erwartet unter anderem eine Sauna und eine Disco. Hermann Helmers Bäckerei hat Konkurrenz bekommen, und es gibt mehrere Cyber-Cafés. „Namche Bizarre“, spottet das Wortspiel. Bei uns, sagen die Nepali scherzhaft, gibt es drei Religionen: Hinduismus, Buddhismus, Tourismus.
Die Region um den höchsten Berg der Welt stellt naturgemäß einen besonderen Magnet dar. Waren es Anfang der 80er Jahre gut 4.000, so kamen zur Jahrtausendwende 22.000 BesucherInnen in den Nationalpark am Fuße des Everest. Brennstoffmangel, Entwaldung und Müllprobleme sind der Preis. Das Nachsehen hat die Bevölkerung in den weniger besuchten Randzonen, die mit inflationären Preisen konfrontiert ist. Entlang der Trekkingroute eröffnen Wohlstand und der Kontakt zu ausländischen BesucherInnen Reise- und Bildungsmöglichkeiten, vor allem für die junge Generation. Beschäftigung, gerade für höher Gebildete, ist freilich begrenzt. Die Sherpa-Bevölkerung nimmt ab: Durch hohe Sterblichkeit (inkl. Bergunfälle), aber auch durch Abwanderung.

Shangri La, vor 60 Jahren vom britischen Romanschriftsteller James Hilton erfunden, ist ein Paradies, wo, hoch oben im Himalaya, Mensch und Natur in Einklang leben. Es funktioniert wie beim Trivialroman: Die Gäste suchen das Klischee des spartanischen, heroischen, fleißigen, ehrlichen, bescheidenen, gastfreundlichen usw. usw. Bergvolkes, sagt Vicanne Adams in ihrer provokativen Studie „Tigers of the Snow and other Virtual Sherpas“: Und genau das bekommen sie vorgeführt. Onstage, backstage: Man spielt seine Rolle. Wenn der letzte Trekker zu Bett gegangen ist, dann wird die Folklore im Kassettenrekorder durch Bryan Adams ersetzt, dann machen Träume von einem Job in Hongkong oder Japan die Runde. Aber: „ein Sherpa bleibt ein Sherpa“, weiß Kurt Luger, Kommunikationswissenschaftler aus Salzburg und Vorsitzender von Eco Himal, der Sherpa-Jugendliche über ihre Sicht der Entwicklung und ihre Zukunftsvorstellungen befragt hat. In der Tat: Sherpa-MigrantInnen schicken Geld und kommen zu Besuch. Die Verbindung hält. Folgt man Lugers Untersuchung, so ist es vor allem die Religion, die den soziokulturellen Kitt bildet, der allen Anstürmen der Globalisierung zum Trotz ein Auseinanderbrechen der Sherpa-Gemeinschaft verhindert. Und: Es gibt kaum eine Familie, die nicht nach wie vor nebenher noch etwas Ackerbau betriebe. Denn über ihr Image hinaus, das natürlich einen wahren Kern hat, sind die Sherpas vor allem klug und geschäftstüchtig. Als Bergvolk sind sie es gewohnt, mit Unwägbarkeiten zu rechnen.


Zum Weiterlesen:

„10 Years and Beyond – Eco Himal and the Austrian Development Co-operation in Nepal and Tibet“, das einen Überblick über die Tätigkeiten der österreichischen Entwicklungszusammenarbeit im Himalaya gibt (siehe auch Rezensionen S. 38)

Luger, Kurt: „Kids of Khumbu – Sherpa Youth on the Modernity Trail”, Kathmandu, 2000

Mehr Infos: Eco Himal, Hofhaymer Allee 11/17, 5020 Salzburg. www.ecohimal.or.at

www.ecohimal.or.at

Robert Lessmann ist freier Journalist und Consultant. Der gelernte Bergführer kennt die Region seit 1983.

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