„In Mexiko kommt man mit allem davon“

Von Redaktion · · 2015/05

Warum die mexikanische Bevölkerung weder an Wahlen noch an Institutionen glaubt, die korrupte Regierung Unterstützung aus dem Ausland erfährt und die Lage trotzdem nicht hoffnungslos ist, erklärt Politikwissenschaftler John M. Ackerman im Interview mit Redakteurin Christina Bell.

Tausende Menschen protestierten in den vergangenen Monaten gegen die mexikanische Regierung und gegen das herrschende Klima von Gewalt und Repression. Für wie wahrscheinlich halten Sie einen Wandel in Mexiko? John M. Ackerman: Die derzeitige Situation ist unhaltbar. In der Regierung sitzen Menschen, die keine Vorstellung von Demokratie oder Pluralismus haben. Seit die PRI, die „Partei der institutionalisierten Revolution“, 2012 wieder an die Macht gekommen ist (davor regierte sie durchgehend von 1929 bis 2000, Anm.), versucht sie, die Meinungsfreiheit abzuschaffen, auf der Straße wie in den Medien. Die Entlassung von Carmen Aristegui – der einzigen Journalistin im ganzen Land, die die Regierung öffentlich kritisierte – aus der Radioredaktion, in der sie tätig war, ist nur ein Beispiel dafür.

Aber die mexikanische Gesellschaft hat sich verändert, das sehen wir auf den Straßen. Die letzten fünf bis sechs Jahre gab es jedes Jahr große Proteste. Wegen Ayotzinapa (s. Kasten) im Herbst, zuletzt wegen der Kampagne gegen Carmen Aristegui. Nach den Wahlen von Abgeordnetenkammer und Gouverneuren Anfang Juni wird es eine neue Protestwelle geben, davon bin ich überzeugt.

Warum? Die Glaubwürdigkeit der politischen Klasse und allen voran des Präsidenten Peña Nieto ist am Boden. Nur ein Viertel der Mexikaner ist zufrieden mit der Demokratie. Manche finden das bedenklich, ich finde das wunderbar. Die Menschen glauben dieser Regierung nichts.

Man darf nicht vergessen, dass es in Mexiko immer Wahlen gab. Selbst Diktator Porfirio Díaz ließ sich insgesamt acht Mal wählen. Die Menschen haben gelernt, dass Wahlen nicht genügen. Außerdem ist Mexiko viel fortschrittlicher geworden, die PRI ist dieselbe geblieben. Das führt zu gewaltigen Spannungen – zwischen einer Gesellschaft, die echte Demokratie einfordert und einem System, das nicht imstande ist, sich weiterzuentwickeln.

Es wird einen Wandel geben, wohin, ist offen. Die Leute an der Spitze haben mächtige Unterstützer: die USA, internationale Ölkonzerne, die „Narcos“ (im mexikanischen Spanisch etablierter Terminus für Drogenhändler, Anm.). Und die geben ihre Macht nicht einfach so auf. Das heißt, die derzeitige Situation könnte auch zu Autoritarismus führen. Die USA unterstützen das. Im Gegenzug für Öl und Zusammenarbeit in Sicherheitsbelangen und solange sie ab und zu ein paar „Narcos“ festnimmt, bekommt die mexikanische Regierung einen Blankoscheck und kann bezüglich Menschenrechten und Korruption machen, was sie will. Gerade wegen dieser Scheinheiligkeit braucht Mexiko Europa, weil es einen unverbrauchten, objektiven Blick hat.

Entführung mit Fragezeichen

Am 26. September 2014 wurden 150 Lehramtsstudenten aus Ayotzinapa (Heimat einer von mehreren traditionell linksgerichteten Pädagogischen Hochschulen im ländlichen Raum, siehe auch Südwind-Magazin 12/2014) in Iguala im Bundesstaat Guerrero von der dortigen Polizei attackiert. Resultat waren 24 zum Teil schwer Verletzte, sechs Tote und 43 Vermisste. Laut offizieller Version wurden die 43 von Polizisten an das Drogenkartell „Guerreros Unidos“ übergeben und von diesen ermordet. Verschiedene inhaftierte Kartellmitglieder gestanden die Ermordung und Verbrennung von mindestens 15 Studenten. Über 100 Verdächtige, darunter Polizisten, Kartellmitglieder sowie der Bürgermeister von Iguala und seine Frau wurden festgenommen. Forensiker konnten anhand der Überreste lediglich Körperteile eines der 43 Studenten identifizieren.

Während die mexikanische Regierung den Fall für abgeschlossen erklärt hat, gibt es nach wie vor Zweifel am Tathergang. Viele Angehörige glauben, dass die Vermissten noch am Leben sind. Das Verbrechen, das Verbindungen zwischen Politik, Polizei und der organisierten Kriminalität publik machte, wurde zum bisher größten Skandal in der Amtszeit von Enrique Peña Nieto. Monatelang kam es zu massiven Protesten in verschiedenen Städten des Landes, die zum Teil eskalierten. Wiederholt wurde von Gewalt gegen Protestierende und willkürlichen Verhaftungen berichtet. cbe

Aber auch die europäischen Staaten sind im Umgang mit Mexiko auf einem Auge blind. Deutschland etwa verhandelt derzeit ein Sicherheitsabkommen mit der mexikanischen Regierung. Dadurch, so Ihre Kritik, würde es sich zum Komplizen von Gewalt und Unterdrückung machen. Ich setze nicht auf die Regierungen, sondern auf NGOs, die Zivilgesellschaft, einzelne Politiker. Deren Unterstützung macht einen Unterschied. Die Ereignisse von Iguala wurden im Europäischen Parlament diskutiert. Die Resolution war dann verwässert, aber dass – im Gegensatz zum US-Kongress – dort überhaupt eine Diskussion stattfand, war wichtig.

Wir stehen in Mexiko vor einem Totalversagen der Institutionen, von den Lokalverwaltungen bis zur Regierung. Dass immer so getan wird, als ob es nur auf lokaler Ebene Probleme gäbe, ist falsch! Organisiertes Verbrechen, Drogenhandel, systematisches Verschwinden, das muss alles auf Bundesebene geahndet werden. Nehmen wir Iguala: Die Version, dass so etwas geschehen kann, weil sich ein verrückter Bürgermeister mit den Drogenbaronen verbündet, ist nicht akzeptabel. Dass man 43 Kinder verbrennen kann, ohne dass jemand was davon mitbekommt, kann zwei Erklärungen haben: Entweder sind die Behörden Mittäter oder sie lügen. So oder so vertuschen sie etwas. Die Eltern der verschwundenen Studenten wollen die Wahrheit. Sie hoffen immer noch, dass ihre Söhne leben, was möglich ist. Ihr Ruf nach Gerechtigkeit ist jedenfalls so aktuell wie vor sechs Monaten.

Gerechtigkeit – wie kann das unter Rahmenbedingungen wie diesen funktionieren? Wie lässt sich Rechtsstaatlichkeit wiederherstellen, wenn organisiertes Verbrechen und Politik offenbar zusammenarbeiten? Erster Schritt ist eine politische Transformation. Und damit meine ich nicht nur die Regierung, sondern die Gesellschaft als Ganzes. Institutionelle Veränderungen reichen nicht aus. Neue Gesetze, neue Institutionen – das hat Mexiko die letzten 100 Jahre versucht. Das bringt nichts.

2013 gab es laut Umfragen 33 Millionen Verbrechen in Mexiko. Nur 6,3 Prozent wurden angezeigt, und wiederum nur die Hälfte davon untersucht. Die Frage ist nicht, wieso es in Mexiko so viele Verbrechen gibt. Die Frage ist: Wieso gibt es nicht noch mehr? Man kommt buchstäblich mit allem davon. Das Problem ist nicht das fehlende Vertrauen in die Institutionen. Die Menschen vertrauen den Institutionen nicht, weil sie nicht vertrauenswürdig sind.

Die gute Seite ist: Man darf Mexiko nicht nur als Opfer von Drogenhandel, Korruption oder Neokolonialismus sehen. Mexiko ist auch ein einzigartiges Beispiel für liberale Politik. Die mexikanische Revolution war wichtig für die Weltgeschichte. Noch vor der Russischen Revolution und den Verfassungen in Europa wurden in Mexiko soziale Rechte institutionalisiert, das Recht auf Land, auf Arbeit, auf Gesundheit, Bildung. Mexiko war und ist ein Beispiel dafür, wie sich Widersprüche vereinbaren lassen: zwischen Kapitalismus und Kommunismus, zwischen Demokratie und Sozialismus. Es ist eine Art Labor, das wir bewahren sollten – anstatt zuzuschauen, wie es von selbstsüchtigen Kräften zerstört wird.

Das organisierte Verbrechen hat gewaltige Dimensionen erreicht: Ähnlich der italienischen Mafia sind die „Narcos“ ein Teil der Gesellschaft geworden. Was kann man dagegen tun? Das bleibt die große Frage, auch unter einer anderen Regierung. In keiner der Wahlkampagnen wird das thematisiert. Dabei sind die Lösungen zwar nicht einfach, aber klar. Der Drogenhandel sollte nicht im Mittelpunkt der Bemühungen stehen: Der Krieg gegen die Drogen ist so nicht zu gewinnen. Man muss vor allem bei den anderen Formen des organisierten Verbrechens ansetzen, bei der Geldwäsche zum Beispiel.

Außerdem ist in den USA etwa Marihuana bereits in einem Dutzend Staaten legal. Warum sollten sich die Mexikaner gegenseitig wegen etwas umbringen, das auf der anderen Seite der Grenze frei konsumiert werden kann?

Fundamental ist die Abgrenzung von den USA: Mexiko braucht eine autonome Strategie für die öffentliche Sicherheit, anstatt Wachhund für den Nachbarn zu spielen.

Der aus den USA stammende John M. Ackerman ist Professor am Institut für Rechtsforschung der Nationalen Autonomen Universität Mexiko und verfasst auch immer wieder Kommentare für internationale Medien, etwa für den britischen „Guardian“ oder die „Süddeutsche Zeitung“. Im März hielt er auf Einladung des Solidaritätskomitees „Colectivo Acción Solidaria con México“ an der Universität Wien einen Vortrag. Informationen zu Aktivitäten und weiteren Veranstaltungen: colectivoaccionsolidaria.wordpress.com

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