Investition in die Zukunft

Von Brigitte Voykowitsch · · 2008/09

Für Menschen, die ständig vom existenziellen Absturz bedroht sind, machen Versicherungen vorausschauendes Planen erst möglich. SEWA in Indien hat tragfähige Konzepte für Frauen im informellen Sektor entwickelt.

Kamlaben Koshti lebte mit Mann und vier Kindern in Ahmedabad im westindischen Bundesstaat Gujarat. Sie verdiente Geld mit dem Rollen von Bidi-Zigaretten, ihr Mann hatte einen Job in einer Textilfabrik. Als die Fabrik zusperrte, fand er eine zeitlich befristete Arbeit im Ort Nadiad, der eine Stunde Zugfahrt von Ahmedabad entfernt liegt. Eines Tages rutschte er beim Aussteigen ab und stürzte so unglücklich, dass er sich schwere Verletzungen zuzog und mehr als ein Jahr lang bettlägerig war. Für Kamlaben Koshti und die Kinder brachen schwere Zeiten an. In Kürze war die Abfindung, die Kamlabens Mann bei der Schließung der Fabrik erhalten hatte, für die ärztliche Versorgung aufgebraucht. Kamlaben verpfändete ihren Schmuck und musste in der Folge immer neue Kredite aufnehmen, bis sie völlig verschuldet war.
Für arme Familien wie die Koshtis, die ohne Rückhalt und Absicherung stets an der Armutsgrenze leben, kann das Ausfallen des Hauptverdieners den direkten Absturz in größtes Elend bedeuten. Solche Familien sind in Indien nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Denn 93 Prozent aller Werktätigen sind im informellen Sektor tätig, das heißt, sie haben keine Anstellung und somit keine soziale Absicherung. Selbst jene, die – wie Kamlaben – mit Bidirollen oder als fliegende HändlerInnen eine regelmäßige Beschäftigung haben, verdienen so wenig, dass sie kaum je Ersparnisse für Krisenzeiten beiseite legen. Da sie keine Sicherheiten bieten können, sind reguläre Banken nicht bereit, ihnen einen Kredit zu gewähren. Es bleibt ihnen daher nur der Weg zum Wucherer.
Wie gravierend das Problem ist, stellte SEWA, die Self Employed Women’s Association, in Ahmedabad schon bald nach ihrer Gründung im Jahr 1972 fest. Erstes Ziel von SEWA war es, die Frauen, die als Land- oder Bauarbeiterinnen, als Schneiderinnen, Bidi-Produzentinnen, Straßenhändlerinnen und in ähnlichen Tätigkeiten im informellen Sektor arbeiteten, in Kooperativen und Kleingewerkschaften zu organisieren. Bald danach begann SEWA mit der Bildung von Selbsthilfe- und Spargruppen, was später zur Gründung der SEWA-Bank führte. Insgesamt waren die Frauen bei der Rückzahlung ihrer Mikrokredite äußerst verlässlich. Doch immer wieder standen Frauen plötzlich vor dem Nichts, wenn der Mann verstarb, respektive der Mann oder sie selbst schwer erkrankten. Auch Unruhen und Naturkatastrophen konnten das Überleben gefährden, wie im Falle von Fatimaben.
Fatimaben arbeitete als Töpferin. Sie und ihr Mann stellten im eigenen kleinen Haus irdene Gefäße her und verkauften sie vor ihrer Tür. Eines Tages mündete ein Streit zwischen zwei Männern, die unterschiedlichen Glaubensgemeinschaften angehörten, in schwere Unruhen, die das gesamte Viertel erfassten. Plötzlich drangen einige wütende Männer in Fatimabens Haus ein und zertrümmerten alle Gefäße. Fatimaben und ihre Schwester, die gerade zu Besuch war, konnten gerade noch die Flucht ergreifen.
Der finanzielle Schaden war riesig. Dennoch mussten sich Fatimaben und ihr Mann nach diesem Angriff nicht verschulden. Denn Fatimaben war bereits Jahre zuvor Mitglied von SEWA geworden. Sie hatte sich dem Sparprogramm angeschlossen und war auch dem Sozialversicherungsprogramm von SEWA beigetreten. Ihre Schwester war ebenfalls Mitglied, zusammen bekamen sie 5.000 Rupien als Schadenersatz für die zerstörten Gefäße und die Schäden am Haus.

Für SEWA war es nicht leicht gewesen, das Sozialversicherungspaket zu entwickeln. Denn zunächst war keine der staatlichen Versicherungsgesellschaften bereit, sich mit Frauen im informellen Sektor zu beschäftigen. Würden diese Frauen überhaupt die Prämien zahlen können? Oder: Wie sollte man denn Versicherungsverträge und Ansprüche mit armen Frauen aushandeln, die großteils Analphabetinnen sind? Mit solchen Fragen wurde SEWA abgewimmelt, bis sich 1978 die Life Insurance Corporation (LIC) zu einer minimalen Zusammenarbeit bereit erklärte. Für sechs Rupien Prämie im Jahr würde man die Frauen für Todesfälle versichern.
Schon damals war die SEWA-Bank um eine möglichst unkomplizierte Verwaltung bemüht. Man entwickelte folgendes Angebot: Wer einmal 100 Rupien einzahlte, war fürs ganze Leben versichert, denn die Zinsen würden automatisch für die jährliche Prämie verwendet werden. Dieses Depot-Prinzip wird bis heute fortgesetzt. Die einmalige Einzahlung hat sich allerdings – inflationsbedingt und auch infolge des in den vergangenen 30 Jahren wesentlich erweiterten Versicherungspakets – auf mehrere hundert Rupien erhöht.
Die von der LIC angebotene Versicherung schlossen bis 1992 zwar schon 50.000 Frauen ab, wirklich zufrieden waren sie damit aber nicht. Es musste ja kein Todesfall sein, der zur persönlichen Katastrophe führte. Zubaidaben lebt im Bezirk Sabarkantha. Sie baut Gemüse an, das sie einem Zwischenhändler verkauft, der es dann nach Ahmedabad bringt. Im Jahr 1997 waren die Regenfälle während der Monsunzeit aber derart heftig, dass Zubaidabens Haus und die Ernte schwer beschädigt wurden. Niemand kam ums Leben, aber Zubaidaben und ihre Familie wären vor dem Nichts gestanden, hätte die SEWA-Bank das Versicherungspaket inzwischen nicht stark ausgeweitet. Zubaidaben hatte mit einem einmaligen Depot von 500 Rupien eine umfassende Versicherung auf Lebenszeit abgeschlossen. Sie bekam zunächst Geld für die Reparatur ihres Hauses. Als sie dann an Malaria erkrankte, erhielt sie 1.200 Rupien, um ihre Arzt- und Medikamentenkosten zu bestreiten.

Das Versicherungspaket, das SEWA heute anbietet und seit 1992 entwickelt hat, umfasst Tod und Krankheit, Unfälle, Geburts- und Neugeborenenbeihilfe sowie Schäden am Haus und an den für die Arbeit erforderlichen Werkzeugen und Maschinen infolge von Unwettern, Naturkatastrophen oder Unruhen. Parallel dazu fanden viele Trainingsprogramme statt, um den Frauen die für sie anfangs oft verwirrenden Ideen hinter den einzelnen Versicherungskomponenten zu erklären. „Heuer war ein gutes Jahr für mich. Es gab keine Krisen, keine Unfälle, keine Krankheiten. Kann ich daher meine Prämie zurück bekommen?“, lautete eine häufig gestellte Frage. Wichtig war es auch, den Frauen, die nicht lesen und schreiben konnten, klar zu machen, welche Dokumente, Rechnungen und andere Belege sie unbedingt aufbewahren und – wenn die Qualität des Originals nicht sehr gut war – am besten auch noch fotokopieren sollten.
Ende 2006 (der Jahresbericht 2007 liegt noch nicht vor) hatte VimoSEWA, wie sich das Versicherungsprogramm von SEWA nennt, 194.879 Mitglieder in Gujarat und sieben weiteren indischen Bundesstaaten, in denen es „Schwester-SEWAs“ gibt, die alle innerhalb einer Art Dachverband, SEWA Bharat (SEWA Indien) kooperieren. Für die Mitglieder sind, wie die langjährige Erfahrung zeigt, zwei Dinge von besonderer Bedeutung: gutes Service und ein enger persönlicher Kontakt, damit die Mitglieder auf dem Laufenden sind und sich dem Projekt zugehörig fühlen.
Die Abwicklung von Ansprüchen wird weiterhin ständig verbessert. 2006 gelang es SEWA, mit mehreren Krankenhäusern in Ahmedabad ein eigenes Abkommen zu schließen. In zahlreichen Ländern müssen Menschen ja ihre Zahlungsfähigkeit beweisen, bevor sie von einem Krankenhaus aufgenommen werden. Frauen, die bei SEWA versichert sind, müssen dank des neuen Abkommens aber nicht sofort bezahlen. SEWA entwickelt nicht nur selbst, sondern in regem Austausch mit anderen Mikroversicherungs-Projekten ihre Konzepte ständig weiter. Denn SEWA-Gründerin Ela Bhatt ist überzeugt, dass es kein Patentrezept gibt. Was bisher erreicht wurde, beschreibt Ela Bhatt mit folgenden Worten: „Arme Frauen, die immer nur ums Überleben kämpfen, können nicht vorausplanen. Aber dank der Sozialversicherung von SEWA beginnt sich das zu ändern. Die Zukunft ist nicht mehr ein bedeutungsloses Konzept für diese Frauen.“

Weitere Informationen:
www.sewainsurance.org
www.sewa.org

Brigitte Voykowitsch ist freie Journalistin mit dem Schwerpunkt Süd- und Südostasien.

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