„Ja zur Arbeit, nein zur Ausbeutung“!

Von Knut Henkel · · 2014/10

In Bolivien haben KinderarbeiterInnen erfolgreich mobilisiert: Das im August in Kraft getretene Kinder- und Jugendgesetz setzt auf mehr Schutz statt auf Kriminalisierung von Kinderarbeit.

Auf der „Feria América“ von Cochabamba sind junge Burschen, die Waren von einem Ende zum anderen transportieren, alles andere als ein seltener Anblick. Gerald Vino Vidal ist einer von ihnen und jeden Samstag auf dem Wochenmarkt im Zentrum von Boliviens viertgrößter Stadt mit der Sackrodel unterwegs. Der zwölfjährige quirlige Bursche mit dem Bürstenschnitt ist Sprecher der lokalen Organisation der KinderarbeiterInnen von Cochabamba (Onatsbo). „Ich arbeite, weil meine Mutter uns ein besseres Leben ermöglichen will, aber das Geld dafür nicht ausreicht“, sagt der Halbwüchsige. Gerald bezahlt von seinem Verdienst seine Schulsachen und seine Kleidung.

So halten es viele der arbeitenden Kinder in Bolivien. 850.000 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren, die regelmäßig arbeiten, gibt es Schätzungen des Arbeitsministeriums zufolge in dem ärmsten Land Lateinamerikas. Jedes vierte Kind Boliviens ist folglich auf einen Job angewiesen, weil das Geld zuhause nicht ausreicht, um alle nötigen Ausgaben zu bestreiten. „Das ist die Realität in Bolivien“, sagt Elizabeth Patiño Durán, Kinderrechtsexpertin vom Hilfswerk „Terre des Hommes“ im Regionalbüro Cochabamba. Dann fährt sie fort: „Davor haben wir zu lange die Augen verschlossen. Es waren die arbeitenden Kinder und Jugendlichen, die für eine Anpassung der Gesetze auf die Straße gingen.“

Mit mehreren Demonstrationen in La Paz, aber auch in anderen Städten wie Cochabamba, El Alto oder Oruro haben sich die minderjährigen ArbeiterInnen zu Wort gemeldet. Warum? „Weil die Parlamentarier über das neue Kinder- und Jugendgesetz berieten, ohne die Betroffenen anzuhören“, sagt Deivid Pacosillo Mamani. Er ist der Gründer der Organisation der KinderarbeiterInnen von El Alto, der oberhalb von La Paz liegenden Zuwandererstadt. Pacosillo Mamani war mehrere Jahre lang Sprecher der Unatsbo, der Dachorganisation der Kinderarbeiter von Bolivien, arbeitet heute als Sozialarbeiter für die Kinderschutzorganisation Wiphala und berät die Unatsbo. „Die Kinderarbeiter haben es geschafft, die Abgeordneten zu sensibilisieren. Sie haben die SenatorInnen einfach gefragt wie es in ihrer Jugend war“, erklärt der 25-jährige. „Ob sie als Kind nie arbeiten mussten, ob sie immer alles Nötige gehabt haben?“

Das war der Durchbruch, denn die Abgeordneten kamen ins Nachdenken und schließlich wurde eine Delegation der KinderarbeiterInnen, unter ihnen auch Gerald aus Cochabamba, von Präsident Evo Morales empfangen. Der hat als Kind selbst Zuckerrohr geschlagen und Kokablätter geerntet. Für Boliviens Präsidenten ist die Forderung der minderjährigen ArbeiterInnen nach einem Ende der pauschalen Verurteilung der Kinderarbeit nachvollziehbar. Kinderarbeit sei Teil der nationalen Kultur und trage dazu bei, dass die Kinder ein soziales Bewusstsein entwickeln, so Morales.

Folgerichtig gab er grünes Licht für ein Gesetz, welches das pauschale Verbot der Arbeit von Kindern unter 14 Jahren aufhebt. Laut Gesetzestext wird seit dem 6. August 2014 zwischen selbständiger und nichtselbständiger Arbeit unterschieden. Der oder die Minderjährige muss demnach freiwillig arbeiten und braucht die Erlaubnis der Eltern und eines „Verteidigers der Familie“, wie die BehördenvertreterInnen genannt werden.

Auf die Behörden kommt fortan deutlich mehr Verantwortung zu, denn sie müssen nun prüfen, kontrollieren und entscheiden, ob Minderjährige arbeiten dürfen und unter welchen Bedingungen. Arbeiten, die die physische oder psychische Gesundheit gefährden, sind ausgeschlossen, was detailliert in einer separaten Liste fixiert ist. Für Terre des Hommes-Expertin Patiño Durán ist das Gesetz ein Fortschritt. „Entscheidend wird jedoch sein, wie es umgesetzt wird“, so die Fachfrau, die lange für mehr Schutz für die Kinder und weniger Kriminalisierung von Kinderarbeit geworben hat. Dem Gedanken folgt das neue Gesetz. Kinder wie Gerald Vino Vidal, der Arbeit und Schule gut miteinander vereinbaren kann, weil er nur am Samstag arbeitet, werden nicht länger kriminalisiert.

Doch Kinder wie Gerald sind die Ausnahme, so Guillermo Dema von der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), und nicht die Regel. „Wir glauben, dass die Kinderarbeit in jungen Jahren Ausgrenzung und Armut festschreibt“, betont der Experte für Arbeitsrecht. Zudem verweist er darauf, dass die ILO-Konvention 138, die ein Mindestalter für Kinderarbeit in Bolivien von 14 Jahren vorschreibt, von der nationalen Regierung unterzeichnet wurde. Die mit dem neuen Gesetz eingeführte Lockerung der Bestimmungen soll von den ILO-ExpertInnen überprüft werden.

Das kann Konsequenzen für die Regierung in La Paz haben. Doch für die KinderarbeiterInnen ist das neue Gesetz ein Fortschritt, so Deivid Pacosillo Mamani. „Verbote von Kinderarbeit führen nur dazu, dass sie heimlich stattfindet. Dann ist die Ausbeutung viel einfacher“, erklärt der junge Mann, der jahrelang als „Vocero“, als Ausrufer und Kassierer in den Minibussen von El Alto gearbeitet hat. Nun muss der Staat kontrollieren und den Schutz der Kinder garantieren – in Bergwerken, Steinbrüchen oder bei der Zuckerrohrernte. Kinderarbeit dort ist ausdrücklich verboten, doch mit dem neuen Gesetz muss nun das Instrumentarium geschaffen werden, um das auch durchzusetzen. Dabei setzt Bolivien auch auf internationale Hilfe.

Das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationalen (UNICEF) hat schon angekündigt, mit wissenschaftlichen Studien den Effekt des neuen Gesetzes messen zu wollen. Das könnte nicht nur für Nachbarländer wie Peru oder Venezuela interessant sein, sondern auch für Indien oder Nigeria. Auch dort gibt es viele Beispiele, wo Arbeit und Schule vereinbar sind. So wie bei Gerald Vino Vidal.

Knut Henkel ist Politikwissenschaftler und freiberuflicher Journalist mit Schwerpunkt Entwicklungspolitik.

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