Kanadas indigene Revolte

Von Kristin Moe · · 2013/03

Neue Gesetze bedrohen die Rechte von Kanadas Indigenen. Nun fegt eine Widerstandsbewegung durch das Land, die Unterstützung in der ganzen Welt findet.

Diese Szene hat sich in den letzten drei Monaten hunderte Male in Kanada abgespielt: TänzerInnen treten in traditionellen gefederten Kostümen auf, Trommeln werden geschlagen und eine Horde von Kindern und Erwachsenen jubelt dazu. Es hat minus 14 Grad im kanadischen Alberta, aber die Stimmung ist freudig – und empört.

An diesem Tag, dem 11. Jänner 2013, finden über 300 Demonstrationen wie diese auf dem Globus statt, alle unter dem selben Namen: „Idle No More“ (Nicht mehr untätig).

Sowohl Indigene als auch Nicht-Indigene haben sich dieser Bewegung angeschlossen, deren Ziele politische Reformen, die Unterstützung indigener Landrechte und der Schutz der Umwelt sind. Von Kanada aus hat sich „Idle No More“ in die USA ausgebreitet und Solidaritätsaktionen von Europa über den Mittleren Osten bis nach Neuseeland ausgelöst. Twitter und Facebook quellen seit einiger Zeit über mit dem Stichwort „#idlenomore“. Immer mehr Menschen nutzen soziale Netzwerke, um zu versichern, weder still noch untätig zu bleiben angesichts dessen, was sie als fortgesetzten Angriff auf Land- und Menschenrechte durch die kanadische Regierung unter Premier Stephen Harper sehen.

Bei der Kundgebung in Alberta richtet Melina Laboucan-Massimo, eine junge indigene Frau und Greenpeace-Aktivistin mit langen braunen Haaren, ihre Stimme an die Menge. Sie zittert dabei vor Kälte. „Kanada stellt sich als demokratisches Land dar, aber das entspricht immer weniger der Wahrheit“, sagt sie. „Wir werden keine Ruhe mehr geben, solange unser Land und Mutter Erde des Profits wegen geplündert werden.“

Die Räder der „Idle No More“ Bewegung begannen sich vergangenen Herbst zu drehen, als Kanadas Regierung das Gesetz „C-45“ präsentierte, das Mitte Dezember tatsächlich beschlossen wurde. Das Gesetz schränkt den Schutz von Land und von Wasserwegen stark ein und öffnet damit die Tür für eine gesteigerte Ressourcenausbeutung in indigenen Gebieten. Laut Laboucan-Massimo enthalten die jüngsten Gesetze, darunter eben „C-45“, die größten Umbrüche in der Umweltgesetzgebung in der kanadischen Geschichte. „All diese Gesetze machen es für Harpers Regierung einfacher, Rohstoffe aus unseren Gebieten zu gewinnen.“

Nur noch wenige Indigene gibt es in Kanada. Sie kämpfen darum, ihre Lebensweise zu erhalten und leben eng verbunden mit ihrem Land, jagen, fischen, ernten Obst und Gemüse. „Die Rechte der Indigenen sind untrennbar mit der Umwelt verbunden“, sagt Eriel Deranger, eine weitere junge indigene Aktivistin aus Alberta, die sich engagiert, seit sie alt genug war, die negativen Veränderungen hautnah mitzubekommen. Ressourcenausbeutung schädigt nicht nur die Umwelt, die Lebensgrundlage der Indigenen. Sie werden auch nur in den seltensten Fällen am Gewinn beteiligt.

„Indigene Gemeinschaften waren immer schon in vorderster Reihe betroffen, wenn es um den Abbau von Rohstoffen ging“, sagt Laboucan-Massimo. Wie Deranger kommt sie aus der heiß umkämpften, ölreichen „Ölsand-Region“ im Norden von Alberta. Ihre Gemeinschaften stehen im direkten Konflikt mit der kanadischen Regierung wegen der Verschmutzung durch die Ölindustrie. Die beiden Frauen nehmen es persönlich. Sie sind von Anfang an in der Idle No More-Bewegung engagiert.

„Idle No More“ entstand auch aus Frustration heraus. Die Regierung weigerte sich, Kritik am Gesetz „C-45“ anzuhören. Als AnführerInnen der „First Nations“, der indigenen Völker Kanadas, im Dezember ins Parlament wollten, um ihre Anliegen zu präsentieren, wurde ihnen der Zutritt verweigert. Nachdem ihr Wunsch, Premierminister Harper zu treffen, wiederholt abgeschlagen wurde, begann eine indigene Anführerin einen verzweifelten, 44-tägigen Hungerstreik – bis Harper schließlich am 11. Jänner zustimmte, sie zu treffen.

Das Treffen mit Harper ergab nicht viel. Das hatte auch niemand erwartet. Zu diesem Zeitpunkt spielte das allerdings auch keine Rolle mehr. „Idle No More“ hatte einen solchen Aufwind im gesamten Land, dass die Bewegung ihren Blick schon über das Gesetz „C-45“ hinaus richtete, hin zu weiterführenden, systemischen Veränderungen. Ihre Ziele, wenn auch weit gefasst, sind doch sehr eindeutig: Schutz der Umwelt und Einhaltung der Verträge, die indigene Landrechte garantieren und die seit Hunderten von Jahren gelten.

Während die Twitter-Markierung „#idlenomore“ sicherlich die populärste ist, macht eine andere bereits die Runde: „#neverbeenidle“ (noch nie untätig gewesen). BasisaktivistInnen wie Laboucan-Massimo schaffen seit Jahren die Grundlage für die aktuelle Widerstandsbewegung und haben dabei viel Ablehnung erfahren müssen, sogar innerhalb ihrer eigenen Gemeinschaften. Dort sorgt die Abhängigkeit von Regierungsprogrammen dafür, dass wenige den Status quo in Frage stellen. „Es kann sich sehr einsam anfühlen. So, als wäre man nur eine von ganz wenigen, die dieser Sache ihr Leben widmen“, sagt sie. Umso willkommener ist ihr das plötzliche Anschwellen der Unterstützung.

Die Wurzeln des Konflikts reichen weit in die Geschichte zurück, bis zum Beginn der Besiedlung Amerikas durch die EuropäerInnen. Als die ersten SiedlerInnen begannen, das heutige Kanada zu kolonialisieren, taten sie ihr Bestes, um volle Kontrolle über die raue Wildnis zu erlangen – und über all die Ressourcen, die diese zu bieten hatte. Die indigenen EinwohnerInnen wurden als unpraktisches – und oft auch gefährliches – Hindernis für Entwicklung und zivilisatorischen Fortschritt betrachtet. Durch Assimilierungsmaßnahmen, Gesetze, die die Rechte Indigener und ihre kulturellen Ausdrucksformen einschränkten, das Einsperren in Reservate und durch offenen Völkermord gelang es der kanadischen Regierung, den indigenen Widerstand unter Kontrolle zu bringen und ihre eigenen Interessen durchzusetzen. Das Land blühte wirtschaftlich auf.

Für jene Indigenen, die den Angriff überlebten, ist die Geschichte des Landes keine Geschichte des Triumphs. Für sie heißt es: geringere Lebenserwartung, hohe Inhaftierungsraten, unzureichende Behausungen und Abwasseranlagen, Drogenmissbrauch und fehlender Zugang zum Arbeitsmarkt. Sogar heute noch sind die Lebensbedingungen in indigenen Reservaten um einiges schlimmer als überall sonst im Land. Noch immer gibt es viele, die hart dafür kämpfen, ihre Kultur am Leben zu erhalten.

Zurück ins späte 2012, zur Geburt der Idle No More Bewegung als Reaktion auf das Gesetz „C-45“. Für viele war es nicht nur ein nachteiliges Gesetz, sondern die Fortsetzung eines langen, unterdrückerischen Kolonialverhältnisses.

„Idle No More“ betont, die Themen der Bewegung würden nicht nur Indigene etwas angehen. Land und Wasser würden allen gehören. „Harpers Vorhaben werden alle Kanadierinnen und Kanadier betreffen“, sagt Laboucan-Massimo. „Es geht hier nicht um Indigene versus Nicht-Indigene, auch wenn das die Mainstream-Medien oft so darstellen wollen.“

Die kanadische Regierung hat sich im Angesicht der neuen Bewegung auffällig ruhig verhalten. Wenig überraschend, denn das Land beschleunigt den Abbau von Ressourcen, besonders die Gewinnung von Erdöl, wie nie zuvor. Schon 2006 kündigte Harper an, Kanada in eine „Energie-Supermacht“ verwandeln zu wollen. Mit den Ölerträgen, die aus dem berüchtigt giftigen Ölsand bei Alberta gewonnen werden – es ist das größte Industrieprojekt der Erde –, ist Kanada tatsächlich auf dem Weg dorthin.

Niemand hätte vorausgesagt, dass „Idle No More“ derartigen Zulauf erhalten würde. Vielleicht liegt es daran, dass es nicht mehr um das Gesetz „C-45“ geht, sondern um etwas, über das heute kaum noch gesprochen wird, weder in Kanada noch sonst wo: Die Beziehung zwischen Kolonialisierern und Kolonialisierten im 21. Jahrhundert. Wie fängt man an, eine kaputte Beziehung zu heilen? Wie begegnet man einer grausamen Vergangenheit?

In seinem Kern zwingt „Idle No More“ die KanadierInnen, Aspekte ihrer Geschichte zu sehen, die kaum in der Schule gelehrt werden. Oft sind diese Teile der Geschichte brutal, durchdrungen von Rassismus und Gewalt. Für diejenigen außerhalb Kanadas heißt es, sich mit der eigenen oder der kollektiven Kolonialgeschichte zu beschäftigen und zu erkennen, dass Kolonialisierung auch heute fortdauert, in unzähligen Formen.

„Idle No More“ hat noch einen weiten Weg vor sich, seine VertreterInnen aber sind voller Hoffnung. Wie Eriel Deranger sagt: „Alle sehen zu. Die ganze Welt sieht zu. Ich glaube, es ist der Anfang von etwas.“

Kristin Moe ist US-amerikanische Journalistin und Klima-Aktivistin. Sie hat mehrere Monate zu Recherchezwecken im kanadischen Alberta verbracht.

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