Kontinent auf der Suche

Von Dominic Johnson · · 1999/12

Für Afrika geht ein Jahrhundert der großen Ideen zuende. Doch bislang scheiterten alle Versuche, den Kontinent von seiner Abhängigkeit zu befreien.

Die Große Königin wußte, was gut für ihr Volk ist. „Ich schlage vor“, erklärte sie irgendwann im späten 19. Jahrhundert ihrem Stamm der Diallobé, „daß wir akzeptieren, in unseren Kindern zu sterben, und daß die Fremden, die uns geschlagen haben, in ihnen den Platz einnehmen, den wir geräumt haben werden.“ Die Kinder der Diallobé sollten in die moderne französische Schule gehen und die moderne Welt lernen, statt beim traditionellen Lehrer den Koran. Denn die moderne Schule, so heißt es weiter im Roman „L’aventure ambigue“ des Senegalesen Cheikh Hamidou Kane, ordne die Welt um sich neu.

Etwa 100 Jahre, nachdem im wohl tiefgründigsten afrikanischen Roman über die Verwestlichung Afrikas diese Schlüsselszene spielt, demonstrieren zwei afrikanische Schulkinder das tragische Ende der Neuordnung. Zwei Schüler aus Guinea sterben Anfang August 1999 bei der versuchten illegalen Einreise nach Europa im Radgestell eines belgischen Passagierflugzeugs, und als hätten sie es geahnt, findet sich bei ihnen ein handschriftlicher Hilfeschrei an „die Herren und Verantwortlichen Europas“, der wie eine Antwort an die Große Königin klingt. „Wenn Sie sehen, daß wir uns opfern und unser Leben riskieren, ist das weil man in Afrika zu viel leidet, und weil wir Sie brauchen, um gegen die Armut zu kämpfen und den Krieg zu beenden“, schreiben sie. „Nichtsdestotrotz wollen wir lernen, und wir bitten Sie uns zu helfen, unseren Kontinent so zu entwickeln, daß wir auf den selben Stand (wie Europa; Anm.) gelangen können.“

Die toten Kinder aus Guinea erschienen als Zeugen eines Afrika am Nullpunkt. Nach 100 Jahren Kolonialherrschaft, Entkolonisierung und politischen Machtkämpfen ohne Ende hieß ihre Utopie Europa. Während Europa von seinen vielen mörderischen und gescheiterten Utopien des 20. Jahrhunderts lernen konnte, ist Afrika an den seinen ideologisch zugrundegegangen.

Afrikas Utopien hatten viele Gesichter. Zu Beginn war die Unterwerfung: Würde man es schaffen, so zu handeln, zu sprechen und zu denken wie ein Weißer, dann wäre man so gut wie ein Weißer. Die Intellektuellenschicht des kolonialen Afrika, später ein überaus lohnendes Objekt von Spott und Karikatur, ging den Weg der Assimilation.

Es war, wie sich schnell herausstellte, ein Holzweg. Denn der Schwarze blieb schwarz und der Weiße weiß. Spätestens im Zweiten Weltkrieg wurde dies deutlich, als die Afrikaner für Europas Freiheit kämpfen durften, aber nicht für ihre eigene. Entsprechende Rebellionen nach 1945 wurden blutig niedergeschlagen; daraus keimte die antikoloniale Bewegung. Doch im Stillen schuf die Assimilation Nischen und intime Einblicke in die Welt der Eroberer, ohne die die Entkolonisierung nie hätte gelingen können. Die Afrikaner kannten bald die gesamte Kolonialstruktur von innen – die Armee, die Verwaltung, die Kirchen. Es war schließlich nur noch ein kleiner Schritt zum Abschütteln der Fremdherrschaft und zur Übernahme ihrer Strukturen.

Einige afrikanischen Führer erkannten dies – vor allem Leopold Senghor (Präsident von Senegal von 1960 bis 1980) der zu Unrecht verkannte Verkünder der „négritude“, des schwarzen Selbstbewußtseins ohne Abgrenzung. Aber die Mehrheit der Kinder und vor allem die Enkel der „Assimilierten“ gingen den entgegengesetzten Weg der Auflehnung. Sie sagten der Kolonialherrschaft den Kampf an. Sie warfen den anpasserischen Vätern vor, sich mit dem Sklavendasein zu arrangieren. Sie verkündeten die Rückbesinnung auf das Eigene, das Afrikanische, um der Fremdherrschaft etwas entgegenzusetzen. Dieses Eigene war zwar meist imaginär, aber in seiner Wirkung überaus real. Es stützte die Politik der großen Helden der afrikanischen Befreiung wie Kwame Nkrumah (Präsident von Ghana von 1957 bis 1966), Patrice Lumumba (erster Premierminister von Kongo-Kinshasa Juni – September 1960) oder Julius Nyerere (1964 bis 1985 Präsident Tansanias). Es bestand aus dem Glauben an die gesellschaftliche Harmonie, die nur durch Fremdeinflüsse gestört werde. Sich selbst überlassen, so die Überzeugung der Befreiungskämpfer, würden die Afrikaner miteinander statt gegeneinander arbeiten.

Die Utopie der nationalen Einheit verwirklichte sich als eine Realität des Polizeistaats und der finstersten Diktatur. Die weisen Landesväter waren Tyrannen, und das war schon von Anfang an klar. Frantz Fanons „Die Verdammten dieser Erde“, die 1961 erschienene klassische Brandschrift gegen den Kolonialismus, ist zu weiten Teilen auch eine Brandschrift gegen die neue Herrscherschicht des freien Afrika und deren „skandalöse, rasche und unerbittliche Bereicherung“: „Die Massen haben Hunger, und daß es heute afrikanische Polizeikommissariate gibt, beruhigt sie nicht übermäßig.“

Zu der Utopie der nationalen Einheit gesellten sich zwei weitere Utopien, auf höherem beziehungsweise niedrigerem Niveau. Die hohe Utopie war die der Einheit Afrikas, die 1963 mit der Gründung der „Organisation für Afrikanische Einheit“ (OAU) ihre politische Entsprechung fand. Als logische Konsequenz der gesellschaftlichen Einheit gedacht und als Endpunkt der afrikanischen Geschichte gesehen, haben Afrikas Führer sie seit 1963 unzählige Male neu definiert, proklamiert und ratifiziert; wohl kaum ein politisches Ideal hat wohl je im Verhältnis zur Dürftigkeit seines Erfolgs soviel Papier verschlungen.

Die afrikanische Einheit hatte darüberhinaus den Vorteil, die Führer Afrikas von ihren Verbrechen zu entlasten: Alles geschah ja im Dienste eines höheren Zweckes, dessen man sich jährlich auf den OAU-Gipfeltreffen neu versicherte.

Die niedere Utopie war die der autozentrierten, auf der bäuerlichen Gesellschaft basierenden Entwicklung. Nicht Fremdkapital, sondern die eigene Arbeitskraft sollte Afrika entwickeln. Afrikaner sollten nicht mehr „Holzhacker und Wasserträger“ sein – eine der Bibel entlehnte Phrase, die sich in unzähligen Manifesten findet. Sie sollten vielmehr frei von äußeren Zwängen eine neue Gesellschaft aufbauen können, die oftmals mit dem Begriff „afrikanischer Sozialismus“ definiert wurde. Wohl kaum je haben Politiker ihre eigene Kritik der von ihnen bekämpften Verhältnisse so konsequent ins Gegenteil verkehrt. Denn die koloniale Ausbeutung beruhte ja darauf, möglichst wenig europäisches Kapital einzusetzen und möglichst viel afrikanische Arbeitskraft – Zwangsarbeitskraft. Wer hoffte, mit der Muskelkraft der Bauern Afrika zu bauen, trat also in die Fußstapfen der Sklavenantreiber. Aber da ja vorab die afrikanische Gesellschaft als in sich harmonisch definiert worden war, konnte dieses Problem ausgeklammert werden.

So wuchs eine neue Generation von Kindern und Enkeln heran, desillusioniert mit dem Scheitern der unabhängigen afrikanischen Staaten und auf dem Weg zurück in die Welt. Ihr Modell ist nicht die Armut zuhause, sondern der Reichtum in der Fremde. Im Bewußtsein, daß der Rassismus weltweit auf dem Rückzug ist, trauen sie es sich zu, die Globalisierung zu beherrschen, um ihr Leben zu beherrschen. Sie fordern westliche Demokratie und bejubeln IWF-Programme als Mittel, die Macht der Diktatoren zu brechen. Es ist noch zu früh, zu sagen, an welchem Punkt dieser Weg zum Holzweg werden wird. Seit 100 Jahren ist Afrika auf der Suche, und jeder Weg hat sich bisher als Sackgasse herausgestellt.

Aber was wie ein zielloses Hin und Her aus Generationenkonflikten erscheint, ist in Wahrheit immer das eine. Jede Generation sucht auf ihre Weise Respekt und Würde. Jede Generation macht sich zu Schülern, um später Lehrer sein zu können. Nichts drückt das besser aus als der Spitzname, den Afrikas letzter großer Utopist Julius Nyerere hatte: Mwalimu – der Lehrer.

Nyereres Utopie war die klassische Utopie der Befreier: Afrika von seinen Ketten lösen, einigen und mit eigenen Ideen stark machen. Seine „Arusha Declaration“ von 1967 wurde zum Manifest des afrikanischen Sozialismus. Er scheiterte natürlich. Aber Nyerere tat etwas, was nur wenige seiner Kollegen getan haben: Er gestand sein Scheitern ein. Das brachte ihm Respekt.

Anders als die meisten afrikanischen Staatsmänner war Nyerere ein Pragmatiker, besonders in der Frage der afrikanischen Einheit. Bei ihm gingen alle Befreiungsbewegungen des östlichen und südlichen Afrika in die Schule; die tansanische Hauptstadt Daressalam bot allen Zuflucht und Unterstützung. Mit Tansanias Einmarsch in Uganda 1979 zum Sturz Idi Amins schuf Nyerere das Vorbild für etwas, was heute nahezu zum Alltag geworden ist: Militärinterventionen über Landesgrenzen hinweg und das Ende der heiligen Doktrin der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten Anderer.

Nyerere war damit „der Lehrer“ auch noch dann, als Afrika längst ausgelernt hatte und von seinen starken Männern nichts mehr wissen wollte.

In diesem Oktober ist Nyerere gestorben – passend zum Ausklang eines für Afrika verlorenen Jahrhunderts. Die Zeit der Utopien ist in Afrika vorbei. Aber die Schatten sind noch da, und sie lasten schwer auf dem Kontinent.

Zum Beispiel Muammar al-Gaddafi in Libyen, der Afrikas Einheit als Operette begreift und mit glamurösen Gipfeltreffen im Zeitraffer alle Illusionen der vergangenen 40 Jahre noch einmal nachspielt. Oder Laurent-Désiré Kabila im Kongo, der als farcenhafte Wiedergeburt der tragischen Figur Patrice Lumumba all die längst verblichenen Mythen der nationalen Einheit und der bäuerlichen Entwicklung noch einmal hervorholt und sie in einer finsteren Groteske als Instrumente des eigenen Machtstrebens entlarvt. Oder Rebellenbewegungen wie die „Vereinigten Revolutionäre Front“ (RUF) in Sierra Leone, die sich ebenfalls die Befreiung des Volkes vom Zustand der „Holzhacker und Wasserträger“ auf die Fahnen geschrieben hat, aber dies mit den Methoden eines Pol Pot umzusetzen versucht hat. Oder eben die toten Guineer, die in ihrer Verzweiflungsreise den intellektuellen Bankrott eines afrikanischen Jahrhunderts darstellen.

Der Autor ist Afrika-Redakteur bei der Berliner Tageszeitung taz.

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