Land der Frauen

Von Text von Martina M.Hubner, Fotos von Hilda Lobinge · · 2001/03

In der südwestchinesischen Provinz Yünnan wird noch eines der letzten Matriarchate gelebt. Drei Frauenportraits veranschaulichen den Wandel innerhalb der Generationen.

Nü Kuo, das Reich der Frauen“ – so werden in alten chinesischen Chroniken die westlichen Provinzen Chinas bezeichnet. Bis zum heutigen Tag leben dort die Mosuo, ein tibetisch-birmesischer Volksstamm, in einer matriarchalen Gesellschaftsform.
Sie leben neben anderen chinesischen Minderheiten in den abgeschiedenen Bergregionen des Grenzgebietes von Yünnan, Szetschuan und Tibet und in Dörfern um den Lugu-See. Sie verteilen sich in zwölf Regierungsbezirken über ein riesiges Gebiet von 80.000 km˛. Insgesamt zählen die Mosuo 16.000 Menschen. In China werden sie häufig zu der Volksgruppe der Naxi (270.000 Menschen) gerechnet.

Matriachate sind Verwandtschaftsgesellschaften, die nach der Mutterlinie organisiert sind. Frauen haben in sozialen, ökonomischen und religiös-rituellen Bereichen zentrale Funktionen inne. Ein besonderes Merkmal matriachaler Familienstrukturen ist, dass keine Ehen geschlossen werden. Kinder werden im mütterlichen Familienverband aufgezogen, die Vaterschaft ist weder an Rechte noch an Pflichten gebunden.
In psychologischer Hinsicht mögen die matriarchalen Familienstrukturen der Mosuo ein Idealbild verkörpern, wenn man Folgendes berücksichtigt: Schwere Depressionen und Selbstmord sind fast unbekannt; die Kriminalitätsrate ist verschwindend gering; die Kinder werden von allen Sippenmitgliedern liebevoll betreut und Gewalt in der Erziehung ist bei den Mosuo unbekannt; alte Menschen, Kranke und Behinderte sind im Familienverband voll integriert. Das Zusammenleben innerhalb der Sippe ist trotz klar ausgeprägter Hierarchien demokratisch ausgerichtet, die meisten Entscheidungen werden im Kreise der Familie getroffen.

In den letzten Jahren haben in China wichtige gesellschaftspolitische Veränderungen stattgefunden, und daher stellt sich die Frage, wie lange matriarchale Familienstrukturen noch überleben werden.
Überall begegneten uns die Mosuo stets mit großer Herzlichkeit und Gastfreundschaft. Auf dem Boden hockend, nahe der offenen Feuerstelle vor dem Ahnenaltar, berichteten uns die Mosuo-Frauen von ihrem Alltagsleben in den Sippen, ihren sozialen Rollen, Sitten und Bräuchen.

Mschi Zlis Äußeres lässt die Zugehörigkeit zu ihrer Volksgruppe beim ersten Anblick erkennen. Sie trägt den langen, reich gefalteten Rock, die unbequemen Verschnürungen an der Oberkleidung und den blauschwarzen Turban. Sie ist die Matriarchin in ihrer Sippe. Diese Rolle wurde ihr aufgrund ihrer Fähigkeiten sowie ihres Alters von den Sippenmitgliedern zugeteilt und sie akzeptiert dies wie ein auferlegtes Schicksal.
Ihr Leben lang kam Mschi Zli nicht in Kontakt mit der modernen Zivilisation, denn sie lebt in einer abgeschiedenen Bergregion, in die sich kaum je ein fremder Besucher verirrt. Seit kurzem wurden aber die Straßen zum Lugu-See ausgebaut und die Bemühungen der Regierung, das Wohngebiet der Mosuo für den Tourismus zu erschließen, gehen weiter. Deshalb kommt Mschi Zli, vor allem indirekt durch ihre Kinder und Enkelkinder, unweigerlich mit fremden Einflüssen in Berührung. Nicht immer findet dies ihre Zustimmung.
Kaum noch verlässt Mschi Zli das Haus, denn mit 58 Jahren ist sie bereits in einem Alter, in welchem sich Mosuo-Frauen aus dem öffentlichen Leben zurückziehen und auch die Feldarbeit den Jüngeren überlassen. Die Geburt Mschi Zlis Wel in eine Zeit, in der sich in China größte Umbrüche im gesellschaftspolitischen Leben ereigneten.
Im Zuge der Kulturrevolution musste auch ihre Sippe als Angehörige einer nationalen Minderheit Chinas viele Repressionen erleiden. Doch die Versuche der Hanchinesischen Regierung, die mutterrechtliche Tradition zu zerstören, indem alle über Vierzigjährigen zur Ehe und Monogamie gezwungen wurden, waren nicht erfolgreich. Nicht nur lösten die Mosuo später diese Zwangsehen wieder auf, es gelang ihnen auch, trotz jahrelanger Unterdrückung und Versuchen der Assimilierung, ihre kulturelle Identität, die in ihren Sitten und Gebräuchen sowie einer eigenen Sprache Ausdruck findet, zu bewahren.
Als Matriarchin hat Mschi Zli eine ganze Reihe von Pflichten für das Gemeinschaftsleben der Sippe zu erfüllen und ein besonders hoher Stellenwert kommt ihr im religiös-rituellen Leben der Mosuo zu. Ihr ist es vorbehalten, am nächsten zum Ahnenaltar zu sitzen und somit am engsten in Kontakt zu den Ahnen zu stehen. Mschi Zli hält an der mythologischen Überlieferung fest, dass ihr Volk ursprünglich aus dem Gebiet der heutigen Mongolei gekommen war und dass nach dem Tod die Seele wieder zurück in die Mongolei wandert. Nichts ist für Mschi Zli wichtiger, als die lebenslange Vorbereitung ihrer Seelenreise.

Dschermatu ist 34 Jahre alt und Mutter zweier Kinder, für die ihr in der Sippe lebender älterer Bruder sorgt. Entgegen westlichen Vorstellungen von Vaterschaft sieht Dschermatu keine Notwendigkeit einer emotionalen Beziehung der Väter zu den Kindern. In der Sprache der Mosuo ist selbst das Wort „Vater“ unbekannt. Wenn Dschermatu folglich von „Beziehung“ der Väter zu den Kindern spricht beziehungsweise auf eine bessere Beziehung hofft, dann nimmt sie allein Bezug auf die Wnanzielle Unterstützung der Kinder, für die bislang alleine die Sippe aufkam. Sie möchte ihren Kindern damit vor allem eine gute Schulbildung zukommen lassen.
Als Mosuo-Frau pflegt Dschermatu die Besuchsehe. Für kurze oder lange Zeit wählt sie einen „Azuh“, einen Liebhaber, aus. Wenn Dschermatu in Gesellschaft mit Männern ist, verrät ihr Auftreten, dass sie von klein auf die Gleichwertigkeit zwischen den Geschlechtern erfahren hat. Auch in der Erziehung der eigenen Kinder macht Dschermatu keine geschlechtsspezifischen Unterschiede. Wenn Dschermatu auf eigene Wünsche angesprochen wird, reagiert sie mit Zurückhaltung. Ihre Sozialisation vermittelte ihr, persönliche Wünsche zugunsten der Gemeinschaft in den Hintergrund zu stellen.
Dschermatus Leben innerhalb der Sippe entspricht in vieler Hinsicht noch der Tradition. Wie alle Mosuo-Frauen ihres Alters arbeitet sie schwer auf den Feldern. Doch nur ein Schimmer von Wehmut im Gesichtsausdruck der schweigsamen Frau vermittelt dann und wann das Gefühl, dass Dschermatu sich mitunter danach sehnt, „die Welt draußen“ zu erleben und dem harten Alltagsleben zu entfliehen.

Gisuhutsu strahlt mit ihrem breiten Lächeln im Gesicht und offenen Blick Selbstbewusstsein aus und verstärkt dies noch, indem sie von Zeit zu Zeit an ihrer Zigarette zieht. „How are you?“, fragt Gisuhutsu, die in der Schule im Englisch-Unterricht „Hanah“ genannt wird, neugierig an mich gewandt. Wenn Fremde ins Dorf kommen, freut sie sich und wetteifert mit den Gleichaltrigen darum, als erstes Kontakt mit den Fremden aufzunehmen. Was Gisuhutsu von der älteren, analphabetischen Generation insbesondere unterscheidet, ist, dass sie Zugang zu Information und Wissen hat. Sie besucht im nächstgelegenen Dorf die Schule, wo sie zusammen mit Angehörigen anderer chinesischer Minderheiten unterrichtet wird.
Nichts wünscht sich Gisuhutsu im Moment mehr, als die Welt außerhalb des Dorfes kennen zu lernen. Sie träumt davon, eines Tages in die Großstadt Shanghai zu ziehen und das Management eines großen Restaurants zu übernehmen. Die Tradition der Mosuo hat Gisuhutsu zwar einen anderen Lebensweg vorgebahnt, doch kann sie gewiss sein, dass die Sippe ihre Entscheidung, einem Beruf nachzugehen und sich somit aus dem Sippenverband zu lösen, akzeptieren wird. Vielleicht wird Gisuhutsu eines Tages einen Chinesen heiraten.

Martina Hubner ist Psychologin und Mitarbeiterin am Institut für Sozialdienste in Feldkirch.

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