Weltmuseum-Direktor Jonathan Fine im Interview

Von Erhard Stackl · ·
© KHM-Museumsverband

Mit dem Direktor des Wiener Weltmuseums, das viele Kunstwerke mit kolonialem Kontext ausstellt, sprach Erhard Stackl. Lesen Sie hier die Langfassung.

In Deutschland kritisierte man die Rückgabe einiger Benin-Bronzen an Nigeria als „Fiasko“ und „verfehlt“, weil die Werke dort in private Hand kamen. Im Zusammenhang mit dem Gaza-Krieg ist der gesamte postkoloniale Diskurs ins Zwielicht geraten; er wird z.B. in der „Neuen Zürcher Zeitung“ als „zerstörerischer Selbsthass“ bezeichnet. Könnte es sein, dass die Rückgabe von Kulturgütern aus kolonialem Kontext wieder versandet, ehe sie in Österreich so richtig begonnen hat?

Ich kann nicht in die Zukunft schauen, aber ich begrüße die Bereitschaft, in Österreich jetzt einen gesetzlichen Rahmen für solche Rückgaben zu schaffen. Durch die Berufung eines Beratungsgremiums durch die Kultur-Staatsekretärin Andrea Mayer und die Empfehlung, die wir als dieses Komitee abgegeben haben, gibt es eine Grundlage. Ich glaube, dass die Politik sie in ein Gesetz aufnehmen wird, das für die Zukunft tragfähig ist.

Wie soll das ablaufen?

Anzahl und Intensität der Rückgaben hängen davon ab, welche Länder sich Sachen zurückwünschen und wie die Bewertung dieser Wünsche in Österreich ausfällt. Wichtig ist, dass man zunächst die Regeln festlegt. Obwohl die endgültige Entscheidung über Rückgaben bei der Politik liegt, könnte die Vorhersehbarkeit des Prozesses diesen dem Bereich des Politischen und des Boulevard-Presse-Aktivismus ein bisschen entziehen. Das hat Parallelen in anderen europäischen Ländern, beispielsweise in den Niederlanden, wo bereits Objekte nach Indonesien und nach Sri Lanka zurückgehen. Und es weicht relativ stark von den Prozessen ab, die in Deutschland, Großbritannien oder Frankreich zu sehen sind.

Hat Großbritannien nicht ein gesetzliches Verbot für Rückgaben?

Es wird gesagt, dass in Großbritannien wie in Frankreich Eigentum des Staats ohne die Zustimmung des Gesetzgebers nicht abgegeben werden darf. In der Realität kann diese Zustimmung eingeholt werden, das haben wir in Frankreich schon gesehen. Ich sehe da keine unüberwindbare Barriere.

In den Empfehlungen, an denen Sie maßgeblich mitgearbeitet haben, geht man von Rückgaben von Staat zu Staat aus. Und das war ja der Punkt, den in Deutschland nicht nur die Boulevardpresse kritisierte, weil der Staat Nigeria restituierte Bronzen einem Nachkommen des Königs von Benin persönlich überlassen hat. Das würde Sie nicht stören?

Die Empfehlung für Österreich basiert darauf, dass die Bestände der Bundesmuseen Eigentum der Republik sind. Niemand anders ist befugt, etwas zurückzugeben. Wir in den Museen verwalten sie, aber wir sind nicht Eigentümer. Ein Weg, der nicht über den Staat läuft, wäre nicht praktikabel. Aber wer darf anfragen? Die Republik Österreich kann wohl nicht hinter dem Rücken einer anderen Regierung verhandeln, wenn es um Staatseigentum geht. Museen können das vorbereiten, aber die Politik muss dann die Entscheidung treffen.

Früher hat man ethnografischen Museen die Perspektive „dominanter“ Kulturen auf andere vorgeworfen.  Auf Ihrer Website steht eine Solidarisierung mit „Black Lives Matter“, es gab Veranstaltungen zum „Black History Month“. Sehen sich die Verantwortlichen der Museen inzwischen als Akteure gegen Rassismus?

Ich würde nicht sagen, dass wir aktivistisch zum Thema kommen. Wir haben aber selbstverständlich die Aufgabe, die Geschichte des Museums und der Ethnologie aufzuarbeiten. Und dazu gehört die Geschichte des sogenannten „wissenschaftlichen Rassismus“ im 19. Und 20. Jahrhundert, weil dieser zum allergrößten Teil Quatsch war, mit verheerenden Konsequenzen für viele Menschen.

Die „Kulturkreislehre“, eine in Wien um 1900 entstandene, antidarwinistische Theorie, wird in der in der Dauerausstellung kritisch dargestellt. Kritische Hinweise gibt es nun an vielen Stellen. Zur Weltreise des Habsburger Erzherzogs Franz Ferdinand 1892 heißt, er habe „zusammengerafft, was ihm in die Hände kam“. Das Gesammelte ließ er als „Selbstinszenierung zur Schau stellen“. Ist das Museum auch eine pädagogische Anstalt?

Museen haben die Pflicht, sich einem breiten Publikum zuzuwenden, im Gegensatz zu einer Universität, wo man eine Matura ablegen muss, um studieren zu können. Wir haben die Gelegenheit, interessante und relevante Fragen mit einem großen Publikum zu diskutieren. Ich würde es weniger als pädagogisch sehen, sondern als Angebot, in eine breite Diskussion einzutreten und dabei eine Position zu beziehen, die wissenschaftlich fundiert ist. Es gibt wenig andere Institutionen, die diese breite Aufgabe haben, und die gleichzeitig so viele Leute anziehen. Wir hatten letztes Jahr mehr als 180.000 Besucherinnen und Besucher, wir haben viel mehr Leute erreichen können als ein Universitätsseminar.

In früheren Interviews haben sie betont, dass das Museum nicht nur die Geschichte betrachten soll. Was kann es für die Gegenwart bedeuten?

Wir leben in einer Welt, die durch diese Geschichte geformt wurde. Unsere Gegenwart ist davon geprägt. Und die Zukunft ist mit der Gegenwart und der Vergangenheit verknüpft. Aber die meisten Museen im ethnologischen Bereich sind eher rückblickend und lassen die Besucher:innen stehen, wenn die Frage darum geht: Wie setze ich mich mit dem Thema heute auseinander? Daher sehe ich die Diskussion um Rückgaben von Museumsobjekten als oft zu kurz gedacht, weil sie wieder in die Vergangenheit zurückblickt und den Eindruck entstehen lässt, dass mit der Rückgabe eines gestohlenen oder erpressten oder verschenkten Objektes etwas rückgängig gemacht werden kann und wir in der Gegenwart gut dastehen. Das ist eine viel zu enge Perspektive auf die Auswirkungen der Vergangenheit.

Derzeit tun sich Nachkommen von Opfern der Kolonisierung – etwa in Staaten Afrikas und der der Karibik – zusammen und stellen an den Globalen Norden Forderungen nach Widergutmachung in 100-Billionenhöhe. Sie waren ja Menschenrechtsanwalt. Sehen Sie in solchen Forderungen eine Berechtigung und haben sie eine Chance, zumindest teilweise erfüllt zu werden?

Mit dem Kolonialismus ist sehr viel Geld und sind sehr viele Ressourcen in den Globalen Norden gekommen. Dieser Prozess fängt schon sehr früh an, spätestens im 15. Jahrhundert, als Europäer:innen sich nach Asien begeben und dort versuchen, Sachen zu kaufen, die sie in Europa verkaufen können. Die Frage ist, was die Gegenleistung war. Ob man jetzt in Restitutionsfragen als Geldforderungen stellen kann, weiß ich nicht.
Es wäre aber sinnvoll, in den Diskussionen um Kolonialismus und seine Nachwirkungen die wirtschaftlichen und menschlichen Fragen in den Vordergrund zu stellen. Es besteht ein Unterschied zwischen den Forderungen nach Restitution, die von einem Staat wie Namibia wegen des Genozids an den Herero und Nama ausgehen, und einer allgemeinen Forderung nach wirtschaftlicher Reparation für die Ausbeutung von Land und Menschen.
Unser Rechtssystem ist einfach nicht gebaut, solche Fragen befriedigend zu beantworten. Die politische Frage, wie man ein System schafft, das gerechter mit solchen Forderungen umgehen kann, finde ich dagegen sehr spannend. Wir müssen uns diese Frage stellen. Und nicht nur hier in Europa, sondern weltweit.

Hier im Museum werden hunderttausende Artefakte aufbewahrt, von denen manche umstritten sind. Worin liegt eigentlich noch der Wert von Originalen? Es gibt ja auch gute Kopien, etwa aus dem 3D-Drucker, oder künstlerisch gestaltete Videos. Warum wird nicht mehr damit gearbeitet, wenn man Originale zurückgeben muss?

Die Bedeutung eines Originals hängt vom Kontext ab, in dem ein Objekt interpretiert wird. Ist es ein politischer Kontext, oder ein religiöser, bei dem der rituelle Aspekt sehr wichtig ist – wie bei Reliquien? Die haben ihre Wirkung dadurch, dass man glaubt, hier seien physische Reste eines Heiligen oder eines heiligen Objektes. Aber in anderen Kontexten kann eine Kopie sehr viel aussagen. Im 19. Jahrhundert hat man viel mit Gipskopien gearbeitet, insbesondere von Skulpturen.
In unserem Zeitalter ist durch den musealen Diskurs der Wert des Originals gewaltig gestiegen. Da wir immer mehr mit digitalen Bildern zu tun haben, wo der Unterschied zum Original schwierig zu erkennen ist, z.B. in der Fotografie, könnte könnten Originale in bestimmten Bereichen sogar noch wichtiger werden. Aber in anderen Bereichen wissen wir, dass die Vervielfältigung eines Objektes nicht dazu führt, dass dessen Aura zerstört wird. Wir wissen noch nicht, in welche Richtung es gehen wird.

Ein Prachtstück des Museums ist besonders umstritten: die aztekische Federkrone, der „Penacho“, dessen Herausgabe von Mexiko schon lange verlangt wird. Es hieß bisher, die Federkrone sei nicht transportfähig. Hat sich in diesem Fall irgendetwas bewegt?

Im Moment gibt es keine aktuelle staatliche Rückforderungsanfrage…

Penacho: Legendenumwobene Federkrone

In Wien ist der Penacho, das wertvolle altmexikanische Artefakt aus grün-blau irisierenden Quetzalfedern und tausend Goldblättchen, bereits seit Anfang des 19. Jahrhunderts ein Museumsstück. Erstmals erwähnt wurde die Federkrone 1596 auf der Inventarliste der „Wunderkammer“ im Innsbrucker Schloss Ambras, die dort nach dem Tod des Erzherzogs Ferdinand von Österreich erstellt wurde. Der Tiroler Landesfürst Ferdinand war ein Habsburger und Neffe des römisch-deutschen Kaisers Karl V., als Carlos I. zugleich König von Spanien.
Für Spaniens König hatte der Konquistador Hernán Cortés sieben Jahrzehnte davor das Reich des Aztekenherrschers Moctezuma Xocoyotzin erobert. Laut einer Legende überhäufte Moctezuma den Eindringling zur Beschwichtigung mit wertvollen Geschenken, darunter der Federkrone, die umgehend nach Spanien geschafft wurden.
Von österreichischer Seite wurde stets betont, dass es keineswegs sicher und sogar fraglich sei, ob der in Wien ausgestellte Federschmuck direkt mit Moctezuma zu tun habe. In Mexiko drängten dagegen Aktivist:innen und Politiker:innen immer wieder, das weltweite Unikat ins Herkunftsland zurückzuholen. Der Penacho sei nicht reisefähig, hieß es dazu aus Österreich. Das fragile Federngeflecht würde beim Transport zerfallen. E. ST.

Mexikos Präsident Andrés Manuel López Obrador sprach aber öffentlich davon…

Das ist eine Eigenschaft dieser Diskussion, dass das, was kolportiert wird, nicht hundertprozentig mit dem übereinstimmt, was gemacht wird. Aber es stimmt, dass Mexiko großes Interesse daran hätte, den Federkopfschmuck zurückzuhaben. Die letzte Anfrage, die quasi offiziell gestellt wurde, war für eine Leihgabe, und da gab es – obwohl man es nicht gern hört – von den Fach-Konservator:innen auf mexikanischer wie auch auf österreichischer Seite Bedenken, dass das Objekt den Transport nicht überleben würde. Das ist der Letztstand der offiziellen Diskussion.

Und inoffiziell?

Inoffiziell tauschen wir uns mit Kolleg:innen in Mexiko aus, wir haben unterschiedliche Projekte mit mexikanischen Konservator:innen und Federexpert:innen. Gleichzeitig versuche ich auf dem neuesten Stand zu bleiben, bei den Fragen der Erschütterung, Vibration und Transportmöglichkeit. Wenn sich die technologische Lage ändern sollte, möchte ich unter den ersten sein, die es wissen. Wichtig ist auch, dass wir für mexikanische Staatsbürger samstags den gebührenfreien Zugang zum Museum gewährleisten. Ich würde es sehr begrüßen, wenn der Federkopfschmuck eines Tages in Mexiko gezeigt werden könnte.

Noch recht frisch ist eine Forderung aus Costa Rica nach Restitution eines heiligen Schemels, eines Kultgegenstandes der indigenen Bribri, der über die frühere Museumsdirektorin Etta Becker-Donner 1962 nach Wien gekommen ist. Der Schemel wird von Costa Rica mit der Begründung zurückgefordert, dass die Ausfuhr nicht legal gewesen sei. Gibt es dazu von Ihnen eine Stellungnahme?

Wir haben uns mit den costa-ricanischen Kolleg:innen getroffen, sie haben uns die Unterlagen gegeben, die den Fall darstellen. Er wartet jetzt auf die gesetzliche Regelung für Rückgaben aus kolonialen Kontexten. Ich habe natürlich das Kulturministerium über diesen Fall informiert.

Der verschwundene Schemel der Bribri

Bei der Erkundung seines kleinen indigenen Volks der Bribri in Costa Rica verwandelte sich der Sprachforscher Alí García Segura in einen Online-Detektiv. Er kannte die Erzählungen der Bribri über das gottgleiche Wesen Sibö, das einst mit seinem Gefolge umhergezogen sei. Davon erhalten blieben uralte Kochkessel, mit denen rituell heiße Schokolade zubereitet wurde und vier Sitzbänke. Auf diesen kleinen Schemeln hätten einst Sibös hohe Gäste Platz genommen, vier – mit je einem Tierkopf einer Echse, einer Raubkatze, einer Schlange und eines Affen geschmückt – waren bis vor einigen Jahrzehnten vorhanden. Doch einer der heiligen Schemel, der mit dem Jaguarkopf, war weg. Eine Dame aus Österreich soll ihn mitgenommen haben.
Bei seiner Internet-Recherche fand Garciá Segura heraus, dass ein derartiger Gegenstand im Wiener Weltmuseum zu finden sei; Kontaktversuche schlugen aber fehl. Als 2019 der Ethnologe Georg Grünberg von der Universität Wien nach Costa Rica kam, hörte er von der Geschichte und versprach, ihr nachzugehen.
Tatsächlich war Etta Becker-Donner, die erste Frau an der Spitze des damaligen Völkerkunde-Museums, 1962 in Zentralamerika gewesen und hatte auch die Bribri besucht. Wieso sie einen heiligen Schemel mitnehmen konnte, ist unklar. García Segura hält es für möglich, dass ihn die damaligen indigenen Inhaber:innen dem hohen Gast aus Europa zum Geschenk machten, sagte er der Zeitschrift Revista de Historia.
Legal war das aber nicht. Schon seit 1938 existierte ein Gesetz, das die die Ausfuhr präkolumbianischer Artefakte verbot, wie es in einem Gutachten des „Museo Nacional de Costa Rica“ heißt. Dessen Leitung betreibt nun die Restitution des Schemels der Bribri, den Alí García Segura bei einem Wienbesuch bereits besichtigt hat. E.ST.

  

© Revista de Historia, Costa Rica

Sie sollen 2025 Generaldirektor des gesamten Kunsthistorischen Museums werden. Bekommt der Teilbereich „Weltmuseum“ eine neue Leitung? Sie sind ja Mitglied wichtiger internationaler Gremien wie der Benin Dialogue Group.

Im Großen und Ganzen werden Rückgabefragen Chefsache sein, aber ich freue mich sehr, dass wir hier meine Stelle nachbesetzen können. Das Weltmuseum ist ein bedeutendes Bundesmuseum, und es ist sehr wichtig, dass wir die richtige Person für diese Stelle finden.

© Moritz Fehr

Jonathan Fine (* 1969 in New York) studierte u. a. in Yale und Princeton Jus, Geschichte und afrikanische Kunst. Zunächst als Menschenrechtsanwalt aktiv, war er ab 2020 Leiter des Ethnologischen Museums im Humboldt Forum Berlin und ab 2021 des Weltmuseums Wien.

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