
Viena Latina sammelt Stimmen, Bilder und Erinnerungen der lateinamerikanischen Diaspora in Wien.
Immer wieder hörte der Historiker Berthold Molden in Gesprächen mit lateinamerikanischen Freund:innen von einem tiefen Bedürfnis: nach Sichtbarkeit, nach Räumen für Austausch und Erinnerung. Im intensiven Austausch mit Forscher:innen und Aktivist:innen entstand im Juli 2024 Viena Latina: ein Forschungsprojekt und eine Plattform, die sich der Geschichte und Erinnerung lateinamerikanischer und karibischer Migration nach Wien seit 1945 widmet. Getragen wird es vom Lateinamerika-Institut, dem Wien Museum und der Akademie der Bildenden Künste, gefördert von der EU.
„Es gab eine Lücke in der Wiener Stadt- und Migrationsgeschichte“, sagt Co-Leiterin Marcela Torres. Während andere migrantische Communities inzwischen Teil des öffentlichen Diskurses geworden sind, sei die Geschichte vieler Lateinamerikaner:innen in Wien bislang kaum dokumentiert.
Rund 12.000 Menschen mit lateinamerikanischer Zuwanderungsgeschichte lebten dem Integrations- und Diversitätsmonitor der Stadt Wien zufolge 2023 in der Bundeshauptstadt. Viena Latina zählt hingegen nicht nur Menschen zur lateinamerikanischen Diaspora, die selbst oder deren Eltern in Lateinamerika geboren wurden, sondern auch die nachfolgenden Generationen.
Die Wege, die Lateinamerikaner:innen nach Wien führten und bis heute führen, sind vielfältig. Einige Menschen kamen aufgrund familiärer Verbindungen, andere wegen der Liebe, eines Jobs oder Studiums. In den 1970er Jahren kamen hunderte Chilen:innen, die aus der damaligen Pinochet-Diktatur flüchteten. Aktuell werden von Österreich auch gezielt Arbeitskräfte aus Südamerika angeworben, so etwa Pflegekräfte aus Kolumbien.
Migrationsforschung für alle
Der methodische Zugang des Projekts Viena Latina ist vielschichtig. In Interviews berichteten Menschen in den vergangenen Monaten von ihrer Migrationserfahrung, vom Ankommen und dem Leben in Wien.
Im Rahmen von sogenannten Photovoice-Workshops fotografierten die Teilnehmer:innen Orte oder Objekte, die ihre persönliche Migrationsgeschichte symbolisieren. Die Bandbreite reichte von der österreichischen Fahne auf dem Parlamentsgebäude bis zur Mango auf einem Wiener Marktstand. Im Anschluss wurden die Bilder gemeinsam besprochen und interpretiert. Zu sehen sind die Photovoice-Ergebnisse am 10. Mai 2025 im Lateinamerika-Institut.
Im April starteten Stadtspaziergänge, in denen die bisher gesammelten Geschichten gemeinsam ausgewertet und gedeutet werden – auf Spanisch oder Portugiesisch. Auch hier steht der Austausch im Zentrum. „Wir haben schnell gemerkt, wie groß das Bedürfnis ist, aktiv mitzuwirken und mitzugestalten“, sagt Marcela Torres. „Partizipation steht im Mittelpunkt unseres Projekts.“
Viena Latina lebt auch in anderer Form von reger Beteiligung: Rund 70 sogenannte Citizen Scientists– also engagierte Laienforscher:innen – bringen sich aktiv ein. Sie lernen wissenschaftliche Grundlagen, etwa der Archivarbeit oder Interviewtechniken. Ziel ist es, diese Kompetenzen langfristig in die Communities hineinzutragen – auch als Werkzeug für eigene Initiativen und Projekte.
Brücken schlagen
Ab Sommer 2025 finden dann mehrsprachige Stadtspaziergänge für ein breites Publikum statt. Dabei erkunden Interessierte gemeinsam mit Projektbeteiligten Orte in Wien, die für die lateinamerikanische Community eine besondere Bedeutung haben. Den Abschluss bildet nächstes Frühjahr eine Ausstellung in der Community Gallery des Wien Museums, in der alle Projektergebnisse präsentiert werden.
Doch Viena Latina endet nicht mit der Ausstellung. Parallel dazu entsteht derzeit ein digitales Archiv, das laufend mit Fotos, Reisedokumenten und persönlichen Erinnerungsstücken erweitert wird. „So kann jeder einzelne Lebensweg Teil einer kollektiven Erzählung lateinamerikanischer Migrationsgeschichte in Wien werden“, sagt Berthold Molden. Auch Organisationen in Wien können hier ihre Geschichte(n) erzählen.
Mehr als Forschung
Für das Viena Latina-Team ist das Projekt mehr als eine Forschungsarbeit. „Es ist berührend zu sehen, wie hier eine kollektive Geschichte der lateinamerikanischen Communities in Wien entsteht“, sagt Marcela Torres. Und sie betont: Viena Latina richtet sich nicht nur an Menschen mit lateinamerikanischen Wurzeln. Es lädt alle ein, genauer hinzuschauen: auf das Wien von heute und auf die vielen Stimmen, die hier leben und die Stadt mitgestalten.
www.vienalatina.org