Makaberer Rekord

Von Ralf Leonhard · · 2003/12

Wo Gewerkschaftsarbeit ein Selbstmord-Kommando ist: Weltweit werden 80 Prozent aller Morde an AktivistInnen in Kolumbien begangen.

David José Carranza war am 10. September auf seinem Fahrrad am Bulevar Simón Bolívar in Barranquilla unterwegs, als zwei Maskierte ihn abrupt anhielten. Sie stießen den 15-Jährigen in einen weißen Geländewagen und brachten ihn an einen ihm unbekannten Ort. Stundenlang wurde er dort geprügelt. Er solle den Aufenthalt seines Vaters Limberto preisgeben. Nach vier Stunden luden sie den schwer misshandelten Teenager am Rande einer Schlucht ab. Gleichzeitig läutete im Wohnhaus von Limberto Carranza das Telefon: „Scheißgewerkschafter! Wir bringen dich um.“ Limberto Carranza war in der Coca-Cola-Fabrik von Barranquilla in der Gewerkschaft organisiert.
„Coca Cola hat neun von 18 Abfüllanlagen in Kolumbien zugesperrt“, erzählt Ember Ortiz von der Nahrungsmittelgewerkschaft Sinaltrainal, der Ende Oktober mit einer Delegation in Europa um Unterstützung warb. Er selbst hat 25 Jahre als Maschineningenieur in der Fabrik von Barrancabermeja, am Mittellauf des Magdalena-Flusses, gearbeitet. 20 Jahre lang war er Gewerkschaftsführer. „Es muss rationalisiert werden, heißt es in der Geschäftsführung. Aber auffällig ist doch, dass gerade die Fabriken geschlossen werden, wo die Gewerkschaft am stärksten ist.“
In Barrancabermeja wurden im September jeweils vier Arbeiter in ein Hotel zitiert. Dort erwartete sie ein Mitarbeiter eines Büros, das auf Arbeitskonflikte spezialisiert ist, und bot ihnen volle Abfertigung an, wenn sie freiwillig kündigten. Andernfalls würden sie ohne Abfertigung entlassen. Die arbeitsrechtlichen „Reformen“ der Regierung Uribe erlauben das. Ember Ortiz brachte diese Methoden an die Öffentlichkeit. Entlassen wurde er trotzdem. Neue Arbeit wird er mit seinen 45 Jahren nicht mehr finden. In Barrancabermeja liegt die Arbeitslosenquote bei 35 Prozent.

Kolumbien ist für gewerkschaftliche Aktivitäten wohl das gefährlichste Land der Welt. In den letzten zehn Jahren wurden nicht weniger als 1996 Gewerkschaftsmitglieder ermordet, 446 davon hatten Führungspositionen inne. Kolumbien kann den makabren Rekord verbuchen, Schauplatz von acht von zehn Morden an ArbeitervertreterInnen weltweit zu sein. „Es gibt eine gezielte selektive Verfolgung von Gewerkschaftsaktivisten“, konstatiert Liliana López Lopera, die als Menschenrechtsbeauftragte in der Gewerkschaftsschule von Medellín arbeitet. Verurteilt wurde dafür noch niemand. „In fünfzig Prozent der Fälle weiß man nicht, wer dahinter steckt. In den meisten der anderen 50 Prozent sind die Paramilitärs verantwortlich.“ Gewöhnlich werden von der Staatsanwaltschaft nicht einmal Untersuchungen eingeleitet. „Beweise haben wir keine, dass die Geschäftsleitung die Killertrupps schickt“, sagt Ember Ortiz, „aber es ist schon auffällig, wie viel sie über uns wissen“. Die rechten Todesschwadrone, die sich selbst als Selbstverteidigungsgruppen bezeichnen, werden meist von Viehzüchtern, Unternehmern oder Drogenhändlern bezahlt. Sie arbeiten eng mit der Armee zusammen. Immer wieder werden aktive Soldaten in der Uniform der Paramilitärs erwischt. Sie verstehen sich als Schutzwall gegen die Guerilla, die Rinderzüchtern Tribut abpresst und sich teilweise auch über Lösegelder für Kidnappingopfer finanziert. Doch sie tauchen auch dort auf, wo wirtschaftliche Großprojekte geplant sind und lästige Bauern beseitigt werden müssen. Gewöhnlich reicht es, ein halbes Dutzend öffentlich zu ermorden. Die übrigen verlassen fluchtartig ihre Dörfer.

Präsident Uribe, der mit dem Versprechen der harten Hand gegen die Guerilla angetreten ist, verweist auf eine positive Menschenrechtsbilanz. Tatsächlich wurden bis 6. Oktober heuer „nur“ 59 Gewerkschaftsaktivisten ermordet, während im gleichen Zeitraum 2002 noch 161 gezielten Anschlägen zum Opfer gefallen waren. Zugenommen habe aber, so Liliana López, die Verfolgung durch die Behörden: „Bei uns wird gewerkschaftliche Arbeit mit Terrorismus und staatsfeindlichen Umtrieben gleichgesetzt.“ Mit Morddrohungen, willkürlichen Festnahmen und illegalen Hausdurchsuchungen werden AktivistInnen heute eingeschüchtert.
Aidé Silva, Mitbegründerin und Vorsitzende der Gewerkschaft Untraflores im Schnittblumenbetrieb Belinda bei Bogotá, wurde sechs Monate zum Kartoffelschälen in die Küche versetzt, als sie vor zwei Jahren mit der Organisationsarbeit begann. So war sie von den Kolleginnen abgeschnitten. Den Gewerkschaftsmitgliedern wurden sämtliche Zuschüsse wie Urlaubsgeld und Transportsubvention gestrichen. In der Werkskantine, wo alle anderen 70 Prozent Ermäßigung bekommen, müssen sie den vollen Preis zahlen.

Der Autor ist freier Mitarbeiter des SÜDWIND-Magazins und war lange Zeit als Journalist in Mittelamerika tätig.

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