Mehr als ein Landkonflikt

Von Redaktion · · 2011/04

Militärisch wurde die Urbevölkerung Chiles, die Mapuche, nie besiegt, doch im letzten Jahrhundert wurde ihnen ein großer Teil ihres Landes geraubt. Ein Besuch in ihrem angestammten Gebiet von Antje Krüger.

Ihr wisst in Europa viel mehr über die Mapuche als wir“, sagt Leonardo Fernández. Er steuert sein Auto durch Santiago, einmal quer durch die Stadt gen Süden. Fernández ist auf dem Weg zu einem Familienbesuch. Der junge Chauffeur ist in Chiles Araukarien-Region groß geworden, dem angestammten Gebiet der Mapuche. Doch einen Bezug zu seinen ehemaligen Nachbarn, den ursprünglichen BewohnerInnen Südchiles, hat er kaum. „Ich lebe schon zu lange in Santiago. Mir geht es wie den meisten Chilenen, ich höre von den Mapuche nur im Fernsehen, und selbst da wird erdenklich wenig berichtet“, sagt Fernández. So kennt man sie bestenfalls in ihrer traditionellen Tracht, im seltensten Fall persönlich und meistens nur aus Schlagzeilen, wenn die Konflikte zwischen Regierung und Mapuche wieder eskalieren. Selbst die Feierlichkeiten im vergangenen Jahr, mit denen Chile sein 200-jähriges Bestehen beging und die Grund genug gewesen wären, sich den UreinwohnerInnen des Landes zu widmen, haben daran wenig geändert.

„Wir sollen verschlossen und radikal sein“, sagt Elena Quirúa und lacht. Sie schiebt einen Teller mit Spiegelei über den Küchentisch und stellt selbstgebackenes Brot dazu. Eleonora Quirúa wohnt in Makewe, einem der Mapuche-Gebiete, das aufgrund der Proteste gegen einen internationalen Flughafen nahe der Stadt Temuco in die Medien kam. 95% der Bevölkerung von Makewe sind Mapuche. „Klar gibt es bei uns auch einige, die radikal unser Land zurückfordern. Aber das sind die wenigsten“, sagt Eleonora. „In unserer Weltsicht steht Respekt ganz oben. Für uns ist alles in einer Einheit miteinander verbunden, die Erde, die Natur und alle Menschen. Wer das wirklich verinnerlicht hat, kann gar nicht verschlossen sein“, erklärt die junge Frau, während ihre fünfjährige Tochter neugierig den Gast mustert.

Über 600.000 Mapuche leben heute noch in Chile. Das Volk hatte sich lange jeglicher Eroberung widersetzt, zuerst durch die Inka und dann durch die Spanier. Erst vor etwas mehr als 100 Jahren begann ihre Winkisierung, wie sie es nennen. „Winka, das seid ihr für uns, die Nicht-Mapuche“, erklärt Eleonora. Der Zerfall, der dann folgte, war fast total. Die Mapuche weisen heute die höchste Armutsrate innerhalb der chilenischen Bevölkerung auf. Der Zwang, chilenische Schulen, Kirchen und Hospitäler zu besuchen, zerstörte das gesamte Wertesystem der Mapuche, stempelte es als minderwertig ab. Die Fremdnutzung ihres Landes tat ein Übriges. Letzte offizielle Landenteignungen erfolgten noch in der Zeit der Diktatur Pinochets (1973-1989). „Die Mapuche unterschrieben Verträge zum Landverzicht. Unter welchen Bedingungen das geschah, möchte ich mir gar nicht vorstellen. Wahrscheinlich mit der Waffe am Kopf“, sagt Salvador Carmona von der Zeitung „La Cuarta“, einer der wenigen Journalisten Chiles, die häufiger über die Mapuche berichten.

Auch heute drehen sich die Konflikte mit der Regierung zumeist um die Nutzung des Landes, das ursprünglich den Mapuche gehörte. Nur ein Teil davon ist ihnen zurückgegeben worden. Und die Projekte, die auf privatem Großgrundbesitz oder staatlichen Ländereien vorangetrieben werden, gehen oft über die Bedürfnisse der Mapuche hinweg.

Chiles Süden hat sich in den letzten 15 Jahren optisch stark verändert. Wo einst Urwälder mit dichtem Gestrüpp die Anden bedeckten, wachsen heute Pinien- und Eukalyptusplantagen die Hänge hoch. Die Machi, die Mapucheheilerinnen, können die Kräuter für ihre Medikamente kaum noch sammeln, denn die wenigen verbliebenen, für sie heiligen, Araukarienwälder werden in Nationalparks geschützt.

Die monokulturelle Ausbeutung ihres Landes steht der Weltsicht der Mapuche konträr gegenüber. „Früher gab es hier keine Zäune. Das Land gehörte allen und wir achteten darauf, dass es im Gleichgewicht blieb. Nahm man an einer Stelle, musste man an einer anderen geben. Jeden Baum, den wir fällten, baten wir um Erlaubnis und Entschuldigung“, erklärt Eleonora Quirúa. Nachhaltigkeit, von Umweltschützern heute mühsam propagiert, war Alltag für die „Menschen der Erde“, wie die Mapuche übersetzt heißen. Da viele Mapuche sich immer mehr auf ihre ursprünglichen Werte rückbesinnen, ist die Auseinandersetzung um ihr Land nicht nur ein bloßer Landkonflikt.

„Wir wollen hier kein Museum errichten und so leben wie früher. Wir verändern uns ja schließlich auch. Aber wir wollen gesunden, und das können wir nur, wenn wir unsere Kultur wieder im Einklang mit der Erde und der Natur leben können“, erklärt Francisco Chureo, Nachbar von Eleonora Quirúa und Präsident der Indigenen Gemeinschaft für Gesundheit. Der Vereinigung geht es um den Versuch, die Heilung eines ganzen Landstriches und Volkes in Gang zu setzen – die ansässigen Chilenen eingeschlossen. „Schließlich“, so Eleonora, „sind wir ja alle eins und unsere chilenischen Nachbarn sind oft genauso arm und haben die gleichen Probleme wie wir.“

Doch dieser Versuch wird immer wieder empfindlich gestört, wenn über die Köpfe der Mapuche hinweg Projekte wie der internationale Flughafen nahe Temuco beschlossen werden. Dort soll das vorhandene Aerodrom als Teil eines Infrastrukturprogramms zur Förderung der Wettbewerbsfähigkeit ausgebaut werden, wofür 16 Mapuchegemeinden umgesiedelt werden müssten. Laut Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation, die Chile 2008 ratifiziert hat, müssen die Mapuche um Erlaubnis gefragt werden, wenn ihr Land anderweitig genutzt werden soll. Doch das ist nicht geschehen. Im Moment gehen aufgrund eines Gerichtsurteils zugunsten der Mapuche die Flughafenplanungen nicht weiter, doch hinter den Kulissen offenbart sich, wie tief die Kolonialisierungsmentalität in Chile noch sitzt. „Ein Mitarbeiter vom Bauministerium erklärte am Flughafenbau interessierten Unternehmern, dass sie aufgrund der Konvention 169 nicht ohne Zustimmung der Mapuche bauen können. Die Diskussion darüber wurde hitzig geführt, mit Vorschlägen wie etwa, das Gesetz zu ändern. Der Mann vom Ministerium betonte, dass dies internationales Recht und nicht einfach zu ändern sei. Die Antwort darauf: Gut, dann gehen wir eben mit Geld zu den Mapuche und wenn das nichts hilft, mit Waffen“, berichtet der Journalist Salvador Carmona.

Bislang ging Chiles Regierung mit unverhältnismäßiger Härte gegen die Mapuche vor. Die ehemalige sozialistische Präsidentin Michelle Bachelet (2006-2010) ließ sie vor Militärgerichte stellen – ein rechtliches Relikt aus der Pinochetdiktatur. Des Terrorismus angeklagt, erhielten sie keine Akteneinsicht und saßen bis zu einem Jahr in Untersuchungshaft. Die Vorwürfe lauten in der Regel: Brandstiftung und Besetzung von Privatbesitz. Durch die Anonymität der ZeugInnen, die das Militärrecht zulässt, wurde nie wirklich bewiesen, was an den Anklagen dran war. Ein über 80 Tage dauernder Hungerstreik von 30 Mapuchehäftlingen war die Antwort auf Haftbedingungen, die ihre Anwälte als menschenrechtswidrig deklarierten.

Diese Härte, die vor allem im Ausland für Verwunderung und Empörung sorgte, wurde inzwischen offiziell etwas zurückgefahren. Der jetzige Präsident Sebastián Piñéra von der rechtsgerichteten Partei der Nationalen Erneuerung kündigte einen Runden Tisch an, der bislang allerdings nicht zustande kam. Er führte einige wenige Reformen der Militärgerichtsbarkeit durch, so die Abschaffung der Anklage gegen Minderjährige. „Piñera fürchtet um sein internationales Ansehen. Um die Mapuche geht es ihm nicht“, erklärt Salvador Carmona diesen Richtungswechsel.

Wenig davon dringt bis nach Santiago vor, höchstens die Bilder von Demonstrationen, die mit Wasserwerfern aufgelöst werden. Leonardo Fernández weiß nichts vom Streit über den Flughafen. Er kannte nur den Konflikt um den Staudamm am Fluss Bío Bío, einem der wichtigsten Flüsse für die Mapuche. Der Bío Bío war lange Zeit ihre Grenze zu den von den Spaniern eroberten Gebieten. Als 1997 der Staudamm hochgezogen wurde, überschwemmte er nicht nur das Land mehrerer Mapuche-Gemeinden. Er greift auch massiv ins Ökosystem der Gegend ein. Der Kampf um den Fluss war der erste große Konflikt mit den Mapuche in Chile. Als Fernández nun den Bío Bío überquert, erzählt er noch ein Gerücht, das sich im Lande hartnäckig hält. Er formuliert es als gut gemeinten Ratschlag. „Die Mapuche lassen sich jetzt von kolumbianischen Guerrilleros ausbilden und Ausländer, die mit ihnen zu tun haben, machen sich schnell verdächtig. Also Vorsicht!“, warnt er, bevor er den Fahrgast im Mapuchegebiet verabschiedet und weiter fährt zu seiner Familie, die die eigenen Nachbarn gar nicht kennt.

Antje Krüger studierte Politikwissenschaft an der FU Berlin. Sie arbeitet als freie Journalistin, insbesondere über Argentinien und Chile, wo sie sich kürzlich wieder länger aufhielt.

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