Menschen, die wir verloren haben

Von Redaktion · · 2009/06

Afghanistan hat die zweithöchste Müttersterblichkeitsrate der Welt. Zwei Geschichten zweier Frauen.

Die Geschichte meiner Schwester
Meine Schwester hieß Rahima. Sie war zwei Jahre älter als ich. Wir haben fünf Brüder, und so waren Rahima und ich immer zusammen. Sie war sehr schön, sie hatte große Mandelaugen. Sie heiratete vor sieben Jahren. Wir mussten beide schrecklich weinen, als sie fort ging und ins Haus ihres Mannes zog. Ihr Mann war ein guter Mensch, ein Arbeiter. Seine Familie erfuhr von unserer Familie über seine Tante. Sie kamen, um sich meine Schwester anzusehen und um ihre Hand anzuhalten. Monatelang kamen sie immer wieder, bis mein Vater eines Tages ja sagte. Es gab eine kleine Verlobungsfeier, und sie waren ein Jahr lang verlobt; die Familie ihres Mannes brachte uns Geschenke zur Feier am Ende des Fastenmonats und zu Neujahr. Dann heirateten sie. Das Hochzeitsfest war auch bescheiden. Sie trug ein weißes Kleid und dann ein grünes. Sie sah so schön aus!

Ein Jahr nach der Hochzeit bekam sie eine Tochter. Meine Mutter und ich waren bei ihr, als es soweit war. Wir brachten eine Hebamme aus ihrem Dorf mit, die bei der Geburt half. Sie war eine alte Frau, und sie hatte Geburtshilfe auf die traditionelle Art gelernt – indem sie mit ihrer Mutter, die ebenfalls Hebamme war, zu Geburten mitging. Als Rahima das Kind zur Welt brachte, waren nur meine Mutter und die Hebamme bei ihr im Zimmer. Ich war damals nicht verheiratet, also durfte ich nicht hinein; so will es die Tradition. Ich wartete draußen und machte Wasser heiß, das die Hebamme brauchte. Die Hebamme sagte, dass die Geburt gut verlief. Nach 40 Tagen gingen meine Mutter und ich wieder nach Hause, meine Schwester und das Baby waren gesund.

Sie brachte noch zwei weitere Kinder zur Welt, beides Buben. Sie hatte drei Kinder in fünf Jahren Ehe. Alle ihre Kinder waren wunderbar. Ihr Mann war ein guter Mensch, sehr respektvoll. Sie lebten mit zwei jüngeren Schwagern und dem alten Schwiegervater zusammen. Rahima war die einzige Frau im Haus. Die Schwestern ihres Mannes waren alle verheiratet und kamen sie manchmal besuchen. Ihr Leben war in Ordnung; sie hatte weder mehr noch weniger Probleme als die meisten Frauen. Ihr Mann schlug sie nie, und meine Mutter betet deshalb für ihn.

Als Rahima ihr viertes Kind bekam, gingen wir wieder hin. Wir brachten dieselbe Hebamme mit. Ich blieb draußen zum Wasserkochen und passte auf die Kinder auf. Es war genauso wie die drei früheren Male. Die Hebamme kam raus und sagte, meiner Schwester und dem Baby gehe es gut, und es sei ein Mädchen.

Aber in der nächsten Nacht wachte Rahima mit hohem Fieber auf. Sie hatte rote Augen, das Baby hatte auch hohes Fieber. Sie versuchte, das Baby zu stillen, aber es kam keine Milch heraus. Wir pressten kalte Tücher auf ihre Köpfe, aber am Morgen konnte meine Schwester die Augen nicht mehr offen halten und keinen Arm mehr heben. Wir holten die Hebamme. Sie sagte Rahima, sie sollte nicht mehr versuchen, das Baby zu stillen. Wir sollten dem Baby ein wenig mit Wasser vermischte Kuhmilch geben. Wenn das Fieber nicht sinken würde, sollten wir meine Schwester ins Krankenhaus in die Stadt bringen.

Wir warteten. Wir gaben dem Baby Milch, aber es wollte nicht trinken. Es zitterte am ganzen Leib, genauso wie Rahima. Beide schwitzten und waren heiß, aber sie zitterten auch. Mein Schwager versuchte, einen Wagen aufzutreiben, um meine Schwester und das Baby ins Krankenhaus zu bringen, das etwa zwei Stunden entfernt liegt. Meine Mutter holte wieder die Hebamme.

Die Hebamme sah sich das Baby an und meinte, es würde bald anfangen, steif zu werden, sein Mund würde sich schließen, und es würde sicher sterben. Meine Schwester würde überleben, wenn man sie ins Krankenhaus brächte, wo man ihr eine Spritze geben würde.

Wir wussten nicht, was wir tun sollten. Ich blieb bei dem Baby und versuchte, es zu füttern und wach zu halten, aber es schwitzte und zitterte, es beutelte ihm den Kopf hin und her, und es wollte die Milch nicht schlucken. Seine Kiefer zogen sich zusammen und sein Mund verschloss sich. Ich war allein, und das Baby lag auf meinem Schoß. Ich war entsetzt, als das kleine Mädchen starb, aber freute mich auch ein wenig für sie, weil ich mir dachte, dass sie so gelitten hatte, als sie noch lebte. Ihr Körper wurde sehr rasch sehr steif. Ich wickelte ihn ein, legte ihn auf den Stapel Matratzen und verschloss den Raum, weil ich nicht wollte, dass die anderen Kinder das tote Baby sahen.

Rahima war gelb im Gesicht, es schüttelte sie und sie hatte hohes Fieber. Es waren noch ein paar Frauen aus der Nachbarschaft im Zimmer. Sie sagten zu meiner Schwester, sie sollte versuchen, etwas zu essen, um bei Kräften zu bleiben, aber sie konnte nicht einmal antworten. Sie konnte nicht einmal die Fliegen von ihrem Gesicht verscheuchen. Ich sagte meiner Schwester nicht, dass ihr Baby gestorben war.

Mein Schwager brauchte etwa eine Stunde, um einen Traktor auszuborgen. Seine Schwester kam auch. Ich nahm sie beiseite und erzählte ihr von dem toten Baby. Sie versprach, sich darum zu kümmern. Meine Brüder und mein Vater kamen auch. Mein Schwager und meine Brüder trugen meine Schwester und legten sie auf eine Matratze im Anhänger des Traktors. Meine Mutter und ich stiegen auch auf.

Bis zum nächsten Krankenhaus dauert es zwei Stunden mit dem Auto, aber ein Traktor ist so langsam, dass wir fast doppelt so lang brauchten. Die Straßen hier sind nicht asphaltiert, und wenn der Traktor durch die Schlaglöcher fuhr, warf es uns alle hin und her. Rahima stöhnte dann ein wenig. Sie war so schwach. Ihre Augen waren tief eingesunken. Wir kauften ihr ein paar Kekse und Saft, aber sie wollte nichts zu sich nehmen.

Nach drei Stunden wurde ihr Körper sehr schlaff, und dann, als wir schon fast in der Stadt mit dem Krankenhaus waren, tat sie einen tiefen Atemzug und verließ diese Welt. Wir ließen meinen Schwager weiterfahren. Wir kamen mit dem toten Körper zum Krankenhaus. Der Arzt kam heraus, warf einen Blick auf die Leiche meiner Schwester im Traktor und sagte uns, sie sei tot. Meine Eltern weinten, aber mein Schwager und ich blieben still.

Die Rückfahrt war die Hölle. Ich betete alle Gebete, die ich kannte. Ich war auch sehr wütend, weil mir meine einzige Schwester weggenommen worden war. Ich wünschte, das Krankenhaus wäre näher gewesen, sodass wir sie sofort hinbringen hätten können, sobald sie krank wurde, und vielleicht wäre sie gesund geblieben, wenn sie zur Geburt dort gewesen wäre. Ich verstehe einfach nicht, warum die ersten drei Geburten so problemlos waren und die vierte meine Schwester umbrachte.

Wir kamen zu Rahimas Haus und legten ihren toten Körper in den Hof. Am nächsten Tag begruben wir sie und ihr Baby nebeneinander. Ich werde meine Schwester niemals vergessen oder sie nicht mehr vermissen, aber ein paar Tage nach ihrem Tod begannen wir, uns über die Kinder Gedanken zu machen. Es gab keine Frauen mehr im Haus, und so beschlossen wir, sie zu uns zu bringen. Ihr Vater besuchte sie ab und zu, aber es war schwer für ihn, und sie vermissten ihren Vater.

Eines Tages kam Rahimas Witwer zu meinem Haus und bat meinen Vater, ihm mich zur Frau zu geben. Er sagte, das sei das Beste, weil die Kinder an mich gewöhnt wären und ich für sie so sorgen würde, als ob sie meine eigenen wären. Aber mein Vater hatte meine Hand schon jemand anderem versprochen – ich sollte nach dem Ende der Trauerzeit für meine Schwester heiraten. Mein Vater sagte also Nein. Mein Schwager nahm daraufhin alle Kinder wieder mit zu sich. Die Beziehung zwischen unseren Familien war zerbrochen. Wir konnten die Kinder nicht besuchen, weil es keine Frauen in dem Haus gab, und er weigerte sich, sie zu uns zu bringen.

Ein Jahr verging, und ich heiratete auch. Dann hörten wir, dass Rahimas Witwer wieder geheiratet hätte. Ich war sehr bedrückt, als ich das hörte, denn Stiefmütter sind immer grausam. Ich weiß nicht, wie sie meine Nichte und meine Neffen behandeln wird. Ich kann nur für sie beten. Das ist ihr unglückliches Schicksal. Wir haben kein Recht, sie zu uns zu nehmen. Mein Vater und meine Brüder können es sich nicht leisten, drei Münder zu stopfen, darum können wir nur das Beste hoffen.

Ich bin nun seit ein paar Monaten verheiratet. Manchmal wache ich morgens auf, denke an meine Schwester und frage mich, warum sie es war, die gestorben ist. Sie war so gut. Ich habe keine Angst, Kinder zu bekommen. Wenn es mein Schicksal ist, bei der Geburt zu sterben, kann ich es nicht ändern. Aber ich wünsche mir, dass es ein Krankenhaus gibt, wo man mich hinbringen kann, wenn es so weit ist, damit die Ärzte notfalls helfen können.

Die Geschichte meiner Frau
Ich heiratete vor drei Jahren. Sie war meine Cousine, die Tochter meiner Tante mütterlicherseits, und meine Mutter schätzte sie sehr. Ich lebte im Iran als Arbeiter. Eines Tages bekam ich einen Brief von meiner Familie. Sie teilten mir mit, dass sie beschlossen hätten, die Heirat mit ihr zu arrangieren. Ich konnte mich gut an sie erinnern und wusste, dass sie aus einer guten Familie war. Außerdem würde es meine Mutter glücklich machen, und ich kam in ein Alter, in dem man heiraten sollte, also sagte ich ja. Iran war kein guter Platz mehr für Afghanen; viele wurden nach Afghanistan abgeschoben. Ich kehrte in mein Dorf in Badachschan zurück.

Ich hatte etwas Geld, das ich für die Hochzeit verwendete. Meine Frau zog zu mir und ich war glücklich. Sie war eine sehr gute Frau. Sie hatte nie Probleme mit meiner Familie, nicht so wie andere Frauen. Eineinhalb Jahre nach unserer Heirat wurde sie schwanger. Wir waren sehr glücklich, besonders weil es mit der Schwangerschaft ein bisschen länger gedauert hatte – in meiner Region beginnen die Leute zu reden, wenn ein Paar kein Kind im ersten Jahr hat.

Bei der Geburt des Kindes kam es zu Komplikationen. Sie war zwei Tage lang krank. Ich hätte sie zum Arzt bringen können, aber es waren sechs Stunden bis dorthin, und ich hatte Angst, dass es noch gefährlicher wäre, wenn sie das Kind auf dem Weg bekommen würde. Außerdem schneite es ziemlich stark, und der Weg hätte zu jeder Zeit blockiert sein können. Es gab eine Hebamme im Dorf, die vorbei kam, aber sie weigerte sich, uns zum Krankenhaus zu begleiten, weil sie die anderen Frauen in der Gegend nicht unbetreut zurücklassen wollte.

Nach zwei Tagen kam das Baby schließlich zur Welt. Meine Frau erholte sich nicht. Nach der Geburt konnte sie sich nicht mehr rein halten. Ihr Körper war aufgerissen. Der Schneefall wurde immer stärker, und der Weg nach Faisabad war gesperrt, also konnten wir sie nicht ins Krankenhaus bringen. Sie wurde immer schwächer. Sie weinte die ganze Zeit, und am vierten Tag hörte sie auf, zu essen und redete überhaupt nicht mehr. Sie war gelb im Gesicht und schwach.

Am vierten Tag starb sie. Wir begruben sie, gingen nach Hause und alles war verändert. Das Baby, ein Mädchen, ist wunderbar. Sie ist sehr groß. Meine Mutter kümmert sich um sie, aber sie ist alt, und nach dem Tod meiner Frau ist sie eher still geworden. Sie kann sich nicht wirklich um meine Tochter kümmern. In den letzten Monaten hat meine Mutter angefangen, von meiner Wiederverheiratung zu reden, aber ich ignoriere sie. Es ist ihr Recht, mich zu bitten, wieder zu heiraten, denn meine Frau würde ihr bei der Betreuung des Kindes helfen und sich um das Haus kümmern. Aber ich weiß nicht, was ich tun soll.

Meine Frau sollte eigentlich noch bei mir sein. Sie starb einen sinnlosen Tod. Sie musste grauenhafte Schmerzen gehabt haben, und vielleicht hätte man ihr helfen können, aber da war einfach niemand – keine Ärzte, keine Krankenschwestern. Diese Regierung hat nichts für die Armen getan. Sie wissen, dass die Menschen in meinem Bezirk von den großen Städten abgeschnitten werden, wenn es schneit, aber sie haben es bisher nicht geschafft, hier Krankenhäuser oder Kliniken zu bauen. Ich habe den Eindruck, dass sich niemand um die Frauen kümmert. Ich hoffe, kein anderes Kind wird in eine solche schlimme Lage gebracht wie meines, ohne Mutter leben zu müssen, unter Aufsicht einer alternden Großmutter. Ich glaube, Kinder und Frauen leiden am meisten.

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