Mexikos Märkte der Armen

Von Redaktion · · 2008/11

In der mexikanischen Hauptstadt lebt eine vorkoloniale Form von Märkten weiter, die Tianguis, auf denen sich die Armen der Metropole mit dem Lebensnotwendigsten versorgen. Den Behörden sind sie ein Dorn im Auge. Text (unter Mitarbeit von Elda Vivanco) und Fotos von Bernadette Felber.

Die Azteken waren ab dem 13. Jahrhundert bis zur spanischen Conquista eines der wichtigsten und auch kriegerischsten Völker Mexikos. Sie selbst nannten sich auch Mexika, daher der Name der heutigen Republik. Tianquitzli hieß in ihrer Sprache Nahuatl „Markt“, woraus sich die Bezeichnung Tianguis für die Volksmärkte im zentralen Mexiko ableitet.
Nach Schätzungen besuchten im vorkolonialen Aztekenreich an die 50.000 Menschen täglich diese Märkte und kauften oder verkauften Gemüse, Bohnen, Mais, Fische, Heilkräuter usw. Zahlungsmittel war die Kakaobohne, es wurde aber auch viel getauscht. Es gab auch eigene Richter, die bei Streitigkeiten Recht sprachen. In der Hauptstadt Tenochtitlan befand sich der Markt am Zócalo, der auch heute noch den Hauptplatz der Megastadt bildet, mit über 22 Millionen EinwohnerInnen die bevölkerungsreichste Stadt der Welt.

Heute haben die Tianguis ihr Wesen geändert und sich den Bedürfnissen der Zeit angepasst. Die Besucherinnen und Besucher können dort alle möglichen gebrauchten und neuen Produkte finden. Es gibt ältere und jüngere Tianguis; das prächtige Kolorit der traditionellen Märkte kann man heute noch auf einigen Bildern von Diego Rivera und Rufino Tamayo bewundern. Heute treten dort auch ab und zu Musikgruppen auf, die ein lebendiges Zeichen mexikanischer Folklore geben.
Der Staat Mexiko hat die Schwelle der 100 Millionen-Bevölkerung bereits überschritten; der Anteil der Indigenen wird mit zwischen zehn und dreißig Prozent angegeben. Auf Grund der schlechten Lebensbedingungen am Land ziehen immer mehr Menschen in die Großstädte. Die Bevölkerung der Hauptstadt hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten mehr als verdoppelt. 65% ihrer BewohnerInnen leben unterhalb der Armutsgrenze. Sie leben zusammengepfercht in armseligen und winzigen Wohnungen oder in Hütten, die sie selbst aus Blechkanistern und Abfallholz errichteten. Durch das sprunghafte Ansteigen der Preise der wichtigsten Grundnahrungsmittel wie Mais, Bohnen und Eier ist ihre Lebenssituation noch prekärer geworden. In der Nähe dieser Elendsviertel konzentrieren sich auch die Tiangui-Märkte.

Gegen sechs Uhr morgens beziehen die Tianguistas, die MarktbetreiberInnen, ihre Stände oder Posten. Sie müssen pro Tag eine Gebühr zwischen 20 und 40 Pesos entrichten, umgerechnet 1,5 bis 3 Euro. Diese Standortgebühr beinhaltet auch die Reinigung; Wasser und Strom werden illegal vom öffentlichen Netz abgezapft.
Auf den Tianguis ist so gut wie alles zu finden, was irgendwie tragbar ist: alle Arten neuer und gebrauchter Kleidung, Schuhe, Nahrungsmittel, Hygiene- und Schönheitsartikel, Teppiche, Elektrogeräte, Kinderspielzeug, alle möglichen Plastiksachen, Autoreifen und -zubehör … Und das zu äußerst günstigen Preisen. Die Kleidungsstücke werden direkt vom Produzenten gekauft. Tausende Tonnen von Textilien kommen jährlich auf illegalem Weg aus den USA. Es gibt auch mexikanische Unternehmen, die ihre Waren direkt auf den Tianguis anbieten. Dadurch ersparen sie sich Werbe- und Vertriebskosten, Lokalmiete usw.
Dann gibt es auch noch eine große Anzahl gebrauchter Produkte, die praktisch alles abdecken, was man für den Haushalt und fürs Leben braucht: Recycling für die Bedürftigsten der Armen. Es gibt auch eigene Second Hand-Tianguis.
Für die Infrastruktur der Armenviertel haben die Tianguis eine große Bedeutung. Einmal wegen der günstigen Preise, wegen des großen Angebotes – man bekommt dort praktisch alles Notwendige, und die KundInnen ersparen sich weite Transportwege. Bei den Imbissständen kann sich die Familie günstig ernähren. Diese Stände sind familiäre Mini-Unternehmen: Während die Mutter kocht und die Männer Stühle und Tische herrichten, bringen die Kinder die Getränke und helfen beim Abwaschen.
Bernadette Felber nimmt mit Fotos über Mexiko-Stadt an folgender Ausstellung teil:
STADTansichten/geschichten. Vier Positionen künstlerischer Fotografie. Luca Faccio zeigt Nordkorea, Bernadette Felber Mexiko-Stadt, Barbara Luisi und David Smyth ästhetisch verfremdete Großstadtbilder. Galerie Elisabeth Michitsch, Opernring 7/12, 1010 Wien, 5.-22.11., Mo-Fr 10-18:00, Sa 11-15:00. Vernissage 4.11. 19:00.

Die Behörden versuchen in letzter Zeit verstärkt, dem Schleichweg illegal bezogener Produkte ein Ende zu setzen, indem sie bei unangemeldeten Kontrollen Waren beschlagnahmen oder verbrennen. Bisher blieben ihre Maßnahmen allerdings ziemlich erfolglos.
Die Argumentation, dass diese Märkte die formelle Wirtschaft schädigen, ist sicher nicht von der Hand zu weisen. Normale Geschäfte müssen eine Ladenmiete, Steuern, Licht, Wasser und Mobiliar bezahlen. In der Regel können sie auch keine Schmuggelware anbieten. Die Spannungen zwischen den beiden Wirtschaftssektoren, dem formellen und dem informellen, wachsen. Doch so lange ein Großteil der Bevölkerung in Armut lebt – und diese Situation wird sich in absehbarer Zeit nicht verbessern, sondern eher noch verschlechtern -, werden diese Menschen auch dorthin einkaufen gehen, wo sie die günstigsten Preise bekommen. Und obendrein sind die Tianguis auch die Einkommensquelle für tausende Familien.

Bernadette Felber studierte an der Akademie für Bildende Kunst in Wien Malerei. Sie arbeitet als Malerin und Fotografin und lebt teilweise in Wien und in Mexiko-Stadt.

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