
Die Ursachen für Hunger und Armut in Haiti liegen in seiner Vergangenheit begraben. In der Gegenwart mangelt es weiterhin an politischem Interesse und strukturellen, wirtschaftlichen Veränderungen, um die Lage der Menschen zu verbessern.
Frangipane, eine bäuerliche Gemeinde im Süden Haitis: Tropische Landschaft, fruchtbare Erde, karibisches Meer. Dennoch: Die Menschen müssen ums Überleben kämpfen. Gegen die strukturelle Armut, Natur- und Klimakatastrophen.
Es ist ein Ort wie viele andere in Haiti, an dem immer wieder versucht wird, durch ländliche Entwicklung das Leben der Menschen zu verbessern. Allein hier beteiligen sich 450 Bäuerinnen und Bauern an einem Programm, das ihnen durch Fortbildungen, Saatgut, Maschinen sowie die Bereitstellung von Mitteln zum Bau von Brunnen eine Perspektive bieten soll. Das Ziel: ihre landwirtschaftlichen Produkte über den Eigenbedarf hinaus zu vermarkten. Doch an der Kreuzung in Frangipane, wo der Bus in die nächste Stadt abfährt, warten nicht nur Bäuerinnen mit Körben voller Orangen, sondern auch Kinder mit Bauchläden auf Kundschaft.
Weder für die Frauen noch für die Kinder läuft das Geschäft gut. Die Konkurrenz ist übermächtig. Haiti wird mit Billigprodukten vom Weltmarkt geflutet. Angesichts der extremen Armut, die alle natürlichen Ressourcen zum Überleben verschlingt, und einer fragilen Staatlichkeit, die von bewaffneten Gruppen endgültig in die Knie gezwungen zu werden droht, greift die Hilfe nicht.
Fünf von elf. Dafür sprechen allein die Zahlen des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen (WFP): Über fünf der elf Millionen Haitianer:innen haben Schwierigkeiten sich täglich ausreichend zu ernähren. Zwei Millionen leiden bereits unter extremer Nahrungsmittelknappheit, 6.000 intern Vertriebene sind von akutem Hunger bedroht. Sie laufen Gefahr an Unterernährung zu sterben oder erhebliche, dauerhafte Gesundheitsschäden davon zu tragen. Die haitianische Bevölkerung erlebt eine Krise, die durchaus mit jenen in Sudan oder in Gaza vergleichbar ist, auch wenn sie andere Ursachen hat.
Die vordergründige Erklärung für den akuten Zustand liefern die völlig außer Kontrolle geratenen Machtkämpfe der Banden, die die Hauptstadtregion um Port-au-Prince zu 80 Prozent kontrollieren. Mehr als 5.000 Menschen starben deshalb im vergangen Jahr, eine Million wurde vertrieben. Die Banden verschärfen die Krise, aber sie sind nicht die Ursache.
Wirtschaftliche Versklavung. Die Wurzeln reichen bis zum Jahr 1804 zurück. Die aufständischen Sklav:innen setzten ihre Unabhängigkeit von Frankreich nur gegen die Verpflichtung durch, dass sie mit von Frankreich zur Verfügung gestellten Krediten die Siedler:innen entschädigen würden, die Haiti verlassen mussten. Diese Kredite zahlte Haiti bis 1946 zurück. Daran verdienten Banken u.a. aus Frankreich, Deutschland und zuletzt die US-amerikanische Citibank.
Heute hätten diese gemeinhin als unrechtmäßig bewerteten Schulden den Gegenwert von 21 Milliarden US-Dollar. Sie machten teilweise 80 Prozent des Gesamthaushaltes aus, alle ökonomischen Aktivitäten wurden stets darauf ausgerichtet. Schon als Kolonie war Haiti nur auf den französischen Markt und dessen Zuckerbedarf abgestimmt, mit der Schuldenrückzahlung wurde die Wirtschaft des Landes erst recht an die Interessen des Weltmarktes angepasst. Damit entstand eine Oberschicht, die nur vom Handel lebt und sich daran bereichert. Die Bauernfamilien hingegen betreiben häufig reine Subsistenzwirtschaft. Die ist extrem anfällig für Unwetterkatastrophen und die Klimakrise, aber auch für jede Intervention des globalen Marktes.
Nichtsdestotrotz deckte Haiti bis Ende der 1980er Jahre seinen Nahrungsmittelbedarf weitestgehend aus der eigenen landwirtschaftlichen Produktion. Besonders Reis wurde in hoher Qualität im eigenen Land erzeugt. Damals lebten in Port-au-Prince noch 800.000 Menschen und nicht vier Millionen wie heute.
Sorry not sorry. Im Jahr 1994 aber setzte US-Präsident Bill Clinton mit US-amerikanischen Truppen die Rückkehr des drei Jahre zuvor durch einen Militärputsch gestürzten Präsidenten Jean-Bertrand Aristide durch. Clintons Forderung, eine radikale Marktöffnung Haitis, führte dazu, dass subventionierter US-Reis auf den haitianischen Markt strömte und so die lokale Produktion vernichtete.
Heute kommen 80 Prozent des in Haiti gegessenen Reises, die Hälfte der Grundnahrungsmittel, aus dem Ausland. Die Energie wird zu 100 Prozent durch importiertes Erdöl produziert.
Als Clinton nach dem Erdbeben 2010, bei dem 220.000 Menschen starben, UN-Sonderbeauftragter für Haiti wurde, entschuldigte er sich für diese von ihm erzwungene Maßnahme, um am Ende die neoliberale Politik für Haiti weiterzuführen. Die internationalen Hilfsmaßnahmen nach dem Erdbeben, die wesentlich unter seiner Führung koordiniert wurden, haben Haiti nicht wie versprochen „besser wiederaufgebaut“. Sie haben die gesamte öffentliche Infrastruktur, die Politik und die Zivilgesellschaft einem neoliberalen Diktat unterworfen und zerstört.
„Haiti is open for business“ lautete der Slogan des 2011 durch nachweisliche Wahlfälschung an die Macht gekommenen, letztlich auf US-Druck installierten Präsidenten Michsel Martelly. Er hatte damals schon enge Verbindungen zu den Banden und zur Drogenindustrie. Heute darf er deshalb nicht in die USA einreisen, obwohl er einen US-Pass besitzt. Unter seiner Ägide und der seines Nachfolgers wurde die haitianische Ökonomie gänzlich dem Weltmarkt und der Drogenwirtschaft unterworfen.
In einer Studie, mit der die Columbia Universität schon 2006 die sogenannte Hilfe für Haiti, und damit auch die gescheiterten Versuche einer nachhaltigen Hungerbekämpfung untersuchte, heißt es: „Haiti bleibt ein Objekt einer sich immer wieder ändernden US-Außenpolitik, die meist die Probleme im Land vertieft hat, und so für Haiti die Verantwortung trägt.“
Haiti wurde zum Beispiel dafür, dass soziale Probleme des sogenannten freien Marktes mit Humanitarismus nicht zu lösen sind. Der Hunger ist nicht verschwunden, weil seine Ursachen nicht bekämpft wurden.
Bevor die US-amerikanische Entwicklungsorganisation USAID im Februar dieses Jahres von Donald Trump geschlossen wurde, hatte sie dem WFP gerade 70 Millionen US-Dollar für Haiti zur Verfügung gestellt. Damit sollten allen Schulkindern eine Mahlzeit aus lokaler Produktion garantiert werden. Ein neuer Ansatz, der aber auch schon wieder gescheitert zu sein scheint.
Mittlerweile wurden die Mittel eingefroren. Trump, der in Wahlkampfreden Haiti als „shithole-country“ bezeichnete, setzt auf die Wiederbelebung der Monroe-Doktrin, die Lateinamerika als natürliche Einflusszone der USA definiert. Dass die Menschen hungern, interessiert nicht.
Also müssen sich die Bauernkinder von Frangipane am Rande der Unterernährung weiterhin mit ihren Bauchläden über Wasser halten. Dafür verkaufen sie Billigkekse aus Indien.
Katja Maurer war Leiterin der Öffentlichkeitsarbeit der deutschen Hilfs- und Menschenrechtsorganisation medico international und hat Haiti mehrfach bereist. Sie arbeitet heute als freie Autorin und hat gemeinsam mit Andrea Pollmeier das Buch „Haitianische Renaissance, der lange Kampf um postkoloniale Emanzipation“ (2020) veröffentlicht.