Mit Leib und Seele

Von Markus Stumpf · · 2000/06

Immer mehr junge Menschen aus den Wohlstandsländern verlassen ihr behütetes Heim und fahren nach Kolumbien, Chiapas oder Osttimor, um dort durch ihre physische Präsenz Flüchtlinge oder gefährdete MenschenrechtsaktivistInnen zu schützen: eine neue Friedens

Um 8 Uhr morgens machen sich Bjorn und Maria fertig, um wieder einmal die Gemeinde San Pablo zu besuchen. Sie sind Mitglieder eines Teams von Peaces Brigades International (PBI), die sich in Kolumbien um den Schutz und die persönliche Sicherheit von aus politischen Gründen gefährdeten Personen bemühen.

Das Dorf San Pablo liegt zwei Bootsstunden entfernt. Die dortige Menschenrechtsgruppe hat Todesdrohungen erhalten; die Situation in dem Gebiet sei sehr angespannt, heißt es. Vor ihrem Besuch in San Pablo haben die beiden Faxe an verschiedenste Empfänger versendet: an zivilgesellschaftliche Organisationen, aber auch an Militärinstanzen und an ausländische Botschaften. Somit wissen alle von dem Besuch der PBI-Delegation.

Um 16.15 ist das Treffen mit dem Militärkommandanten von San Pablo zu Ende. Bjorn und Maria haben mit ihm über die schwierige Menschenrechtssituation gesprochen. Es wurde ein Folgetreffen für einige Tage später ausgemacht, umso kontinuierlich die Entwicklung der Situation verfolgen zu können.

Der Kommandant erzählte ihnen, dass er gerade einen Anruf seines Vorgesetzten bekommen habe. Dieser wiederum wurde von irgendjemandem im Verteidigungsministerium angerufen. Sie wissen, dass diese Anrufe eine Reaktion auf die Tätigkeit von PBI darstellen.

Menschenrechts- und Flüchtlingsbegleitung hat sich in den letzten Dekaden und verstärkt im abgelaufenen Jahrzehnt zu einem wichtigen Faktor zivilgesellschaftlichen Engagements in der internationalen Friedensarbeit entwickelt. Auch in nach außen hin demokratischen Ländern sehen sich GewerkschafterInnen, AktivistInnen von Menschenrechtsgruppen, kritische JournalistInnen usw. in ihrer Sicherheit gefährdet, werden Repressalien ausgesetzt, erhalten Todesdrohungen oder werden sogar Opfer von Attentaten, deren Täter und Drahtzieher dann nie gefunden werden.

Hinter allen Flüchtlingen liegt eine Geschichte aus Folter, Verfolgung, Konflikt, Mord bzw. eine untragbare politische, ökonomische oder ökologische Situation. Die Gründe und Ursachen für Flucht sind allgemein bekannt – wenn ihnen auch ungenügende Aufmerksamkeit gewidmet wird – und stellen in jedem Einzelfall eine Tragödie dar.

Die internationale Flüchtlingsbegleitung hat sich mittlerweile zu einer unabhängigen, aber fallweise in Verbindung mit offiziellen oder internationalen Institutionen (z.B. Botschaften, UNHCR, Amnesty International) tätigen Einrichtung entwickelt.

Die Wurzeln der zivilgesellschaftlichen internationalen Flüchtlingsbegleitung sind in der Vorgeschichte der Internationalen Friedensbrigaden (Peace Brigades International) zu finden. Sie berufen sich dabei auf eine Idee von Mahatma Gandhi, der den Begriff „Peace Brigade“ bereits 1938 benutzte. Dieser Gedanke wurde dann 1957 von seinem Schüler Vinoba Bhave mit der Gründung der Shanti Sena (Friedensarmee) umgesetzt.

Aus den erfolgreichen Tätigkeiten der Gruppe in Vermittlung, Aufklärung, Gewaltfreiheit und Versöhnungsarbeit bei den Straßenunruhen zwischen Hindus und Moslems entstand ein Interesse auf internationaler Ebene, das 1961 zur Gründung der „World Peace Brigades“ führte.

Der lose Bund war bis in die 70er-Jahre aktiv und wurde in China, Indien, Sambia und Zypern tätig. Die Hilfe bei der Repatriierung von Flüchtlingen durch ca. 20 Freiwillige im Zypernkonflikt kann dabei als direkter Ausgangspunkt der internationalen Flüchtlingsbegleitung gesehen werden.

1981 wurde PBI als Friedensorganisation gegründet. Die Friedensarbeit setzt sich dabei aus Beobachtung und Anklage von Menschenrechtsverletzungen, Wahlbeobachtung, Begleitung von Flüchtlingen und AktivistInnen nichtstaatlicher Organisationen, Friedenserziehung etc. zusammen. Größere PBI-Projekte liefen oder laufen noch in Nicaragua (1983), Guatemala (1983-99), El Salvador (1987-89, 1990-92), Sri Lanka (1989-98), USA/Kanada (1990-99), Haiti (seit 1993), Kolumbien (seit 1994), Balkan/Ex-Jugoslawien (seit 1994), Chiapas, Mexiko (seit 1995) und seit dem vergangenen Jahr auch Philippinen, Indonesien und Ost-Timor.

Aus dieser unvollständigen Aufzählung geht Lateinamerika und dabei vor allem Mittelamerika als Beginn und zentrales Element der internationalen Flüchtlingsbegleitung hervor, wobei über Guatemala die meisten Informationen vorliegen. Nicht nur, weil es das am längsten andauernde PBI-Projekt war, sondern auch, weil dort viele andere Organisationen in der Flüchtlingsbegleitung tätig waren und sind – so viele wie in keinem anderen Land.

„Ich empfand, die beiden Begriffe Frieden und Brigade widersprächen einander. … Um das zu diskutieren, nahm ich Kontakt mit einer Nichtregierungsorganisation auf. Rasch entstand dann Interesse an der Arbeit der NGO – und der Wunsch, mitzuarbeiten“, schreibt Daniela Ingruber über ihre Friedensarbeit in Mittelamerika.

Im 36-jährigen Bürgerkrieg in Guatemala, der bis Ende 1996 dauerte, war der Großteil (über 90%) der Menschenrechtsverletzungen mit über 50.000 Ermordeten, 400.000 ins Ausland geflüchteten Personen und einer Million interner Flüchtlinge dem offiziellen staatlichen Bereich zuordenbar.

Seit dem Einsetzen der Flüchtlingsströme aufgrund der massiven Repression in Guatemala zu Beginn der achtziger Jahre, begann eine internationale Solidaritätsbewegung mit der geflüchteten Bevölkerung. Am Beginn standen Delegationsreisen aus Kanada, USA und anderen Ländern zu den Flüchtlingslagern. Aus diesen Kontakten heraus entstand die Forderung nach einer internationalen Begleitung der rückkehrenden Bevölkerung.

Die internationale Flüchtlingsbegleitung in Bezug auf Guatemala begann 1983 mit der Arbeit von PBI in der Begleitung von Volks- und Menschenrechtsorganisationen.

Diese Arbeit diente als Ausgangspunkt und Basis für die Begleitung der entwurzelten Bevölkerung und der Flüchtlinge in ihren Gemeinden.

Formell und in legalisierter Form begann die Flüchtlingsbegleitung jedoch erst mit dem Vertrag vom 8. Oktober 1992 zwischen Flüchtlingsvertretern und der guatemaltekischen Regierung, in dem im 3. Artikel die internationale Begleitung als wesentlicher Bestandteil bei der Rückkehr, der Wiederansiedlung und der Integration in die guatemaltekische Gesellschaft aufgenommen wurde.

„Von Tag zu Tag wurde mir immer bewusster, wie wichtig ein internationaler Beobachter im Dorf ist, und vor allem, wie viel es den Menschen hier bedeutet, dass es noch jemanden gibt, der sich für sie interessiert“, resumiert Waltraud Pticek aus Salzburg ihr Selbstverständnis als Flüchtlingsbegleiterin.

„Bei mir war es die Möglichkeit, mich sozial engagieren zu können, die das so interessant machte“, fasst Eva Scheibreither ihren Beweggrund zusammen. Beide lebten in der letzten Zeit in Guatemala mit Gemeinden von RückkehrerInnen zusammen. Aus Österreich waren bisher über 80 Menschen in diesem Einsatz in Guatemala tätig.

Die Hauptaufgaben der verschiedenen Flüchtlingsbegleitungs-Organisationen aus Europa, den USA und Kanada bestehen in der Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen, in der Überwachung der Einhaltung des Rückkehrvertrages und in der Verhinderung von Menschenrechtsverletzungen durch ihre physische Anwesenheit. Andere Aufgaben bestanden in der Beschreibung der Lebensbedingungen der Flüchtlinge, der Entwicklung der Dörfer und der allgemeinen Entwicklung in Guatemala.

Die Flüchtlingsbegleitung stellt immer eine extreme Form des Kulturkontaktes der jeweiligen Bevölkerung mit im Normalfall westlichen, d.h. aus „industrialisierten“ Staaten kommenden Menschen dar. Akteure, die nicht nach Berufsgruppen, Geschlecht, Alter etc. zusammengefasst werden können. Viel eher eignen sich Begriffe wie Weltoffenheit, Interesse für andere Kulturen, aber auch die Erfahrung des Exotischen, um Gemeinsamkeiten der Personen zu nennen. Von einer neuen Form des Polittourismus kann man dabei nicht sprechen – dazu sind die Alltagsbedingungen im Normalfall zu „ungemütlich“ und auch die Hintergründe der jeweiligen Personen zu unterschiedlich. Ihre Weltbildansätze bewegen sich im Bereich von „christlich-humanitär“, „solidarisch-revolutionär“ und „alternativ-friedlich“.

Die internationale Flüchtlingsbegleitung mit ihrer Funktionsweise der physischen Anwesenheit ausländischer Personen und der von ihnen herstellbaren Öffentlichkeit kann auch als ein positiver Aspekt einer zunehmenden Globalisierung gesehen werden. Und doch sind die oben genannten Ansätze auch Projektionen einer nordamerikanisch-eurozentristischen Welt und spiegeln die Verhältnisse zwischen der so genannten Ersten und der Dritten Welt wider.

Was würde wohl passieren und wie würden die ÖsterreicherInnen reagieren, wenn Angehörige eines Maya-Volkes oder schwarze Garifuna von der Karibikküste in Österreich von der Abschiebung bedrohte Flüchtlinge betreuen und schützen würden?

Markus Stumpf ist Ethnologe und war mehrmals im Rahmen der Flüchtlingsbegleitung der Guatemala Initiative in Guatemala tätig.

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