Mit Zähnen und Klauen

Von Robert Poth · · 2003/02

Mit Hilfe der US-Regierung hat die Pharmaindustrie einen WTO-Konsens über den Zugang von Entwicklungsländern zu patentgeschützten Medikamenten vorläufig torpediert. Doch die WTO ist nur eine Front, an der die Top-Pharmaunternehmen ihre Gewinnspannen verteidigen.

Eine gewisse Neigung zu selbstinszenierten Imagekatastrophen ist der US-Pharmabranche nicht abzusprechen. Die US-Blockade einer WTO-Einigung über die Doha-Erklärung zu Patentschutz und öffentlicher Gesundheitsvorsorge in Genf kurz vor Weihnachten trug klar ihre Handschrift – und brachte die halbe Welt gegen sie auf. Zur Erinnerung: Die WTO-Ministerkonferenz in Doha/Katar im November 2001 hatte klargestellt, dass der in den WTO-Verträgen enthaltene Patentschutz (Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte des geistigen Eigentums, TRIPS) arme Länder nicht daran hindern dürfe, ihre Bevölkerung mit essenziellen Medikamenten zu versorgen – notfalls eben mit Zwangslizenzierungen oder Importen billiger Generika. Doch viele Länder haben keine Produktionskapazitäten, und laut TRIPS muss eine zwangslizenzierte Produktion überwiegend für den Inlandsmarkt bestimmt sein. Wer soll also was produzieren und wohin exportieren dürfen? Das sollte bis Ende 2002 geklärt werden. Der letzte Knackpunkt war die Forderung der US-Delegation, die Krankheiten, für welche die Ausnahme gelten würde, auf Aids, Tbc, Malaria und einige in Afrika endemische Krankheiten zu beschränken, was die Entwicklungsländer keinesfalls akzeptieren wollten.

Die Blockade wurde wieder einmal mit der Sorge begründet, die Vereinbarung würde letztlich den Anreiz zur Erforschung neuer Arzneimittel untergraben. Diese Bedenken „waren nach Ansicht der EU und der meisten anderen Akteure wenn auch nicht unbegründet, so doch übertrieben“, kommentierte der EU-Handelskommissar Pascal Lamy Anfang Jänner in der International Herald Tribune. Ein Indiz dafür, dass die Drohungen der Konzerne, ihre Forschungs- und Entwicklungstätigkeit (F&E) zurückzuschrauben, ihre Wirkung verlieren – zumindest in diesem Fall. Denn ohne eine für die Entwicklungsländer zufrieden stellende Lösung in der Patentfrage ist die in Doha mühsam vereinbarte „Entwicklungsrunde“ der WTO in Gefahr. Und da stehen ja weit mehr Gewinne auf dem Spiel als bloß die der Pharmabranche.
Letztere sind allerdings nicht nur beachtlich, sondern stellen auch ihre F&E-Aufwendungen in den Schatten. 2001 erzielten die zehn größten US-Pharmaunternehmen einen Gewinn von mehr als 37 Mrd. US-Dollar, während sie für F&E 25 Mrd. Dollar ausgaben. Merck allein etwa zahlte 2001 mehr als drei Mrd. Dollar an Dividenden. Auch in den ersten neun Monaten 2002 entwickelte sich die Branche trotz Krisenzeichen ganz leidlich: Die Gewinne der zehn Top-Pharmaunternehmen der Welt summierten sich auf rund 34 Mrd. Dollar, denen F&E-Aufwendungen von 22-23 Mrd. gegenüberstanden.

Aber vergangene Performance ist keine Garantie für künftige Erträge, wie AktienanalystInnen oft anmerken. Glaubt man Brancheninsidern, dann könnte es mit dem jährlichen zweistelligen Gewinnwachstum der Pharmabranche (15% in den 90er Jahren) bald vorbei sein, denn ihre Erträge geraten an mehreren Fronten unter Druck. Erstens laufen die Patente auf zahlreiche Medikamente in den kommenden Jahren ab – allein in den USA sind bis 2005 Medikamente mit einem Umsatz von 37 Mrd. Dollar betroffen, schätzt der US-Verband der Generikahersteller. Zweitens nehmen die Importe von Markenprodukten aus Ländern mit niedrigeren Preisen (Parallelimporte) etwa innerhalb des Europäischen Wirtschaftsraums zu, und drittens versuchen Regierungen überall, die steigenden Kosten der Gesundheitsversorgung durch Preissenkungen für Medikamente unter Kontrolle zu bringen. Schließlich scheint noch der Nachschub an neuen, Erfolg versprechenden Produkten ins Stottern zu kommen.
Patente sind jedenfalls das Lebenselixier der Branche, und was ihr Ablauf im Falle so genannter „Blockbuster“ (Medikamente mit mehr als einer Mrd. Dollar Umsatz) bedeutet, zeigt das Antidepressivum Prozac von Eli Lilly (Patentablauf 2001). Während der US-Konzern im Jahr 2000 mit Prozac 2,6 Mrd. Dollar oder 24% seines Umsatzes erzielte, waren es in den ersten neun Monaten 2002 nur mehr 570 Millionen. Die britisch-schwedische AstraZeneca konnte mit Klagen gegen Generikahersteller im vergangenen Jahr gerade noch einen „Supergau“ abwenden, nämlich den Ablauf des US-Patents für das Magenmedikament Losec (mit 5,68 Mrd. Dollar fast 35% des Gesamtumsatzes 2001). Nur ein Generikahersteller hatte Erfolg, der Rest wurde abgeschmettert, womit der Preis vorerst kaum sinken dürfte.

Auch in diesem Zusammenhang könnte es für US-Patentinhaber enger werden. Eine weitreichende Verbesserung der Rechtsstellung von Generikaherstellern, die vom US-Senat im vergangenen Juli beschlossen wurde, dürfte zwar in dieser Form nicht zum Gesetz werden. Sofern das Abgeordnetenhaus aber den Positionen der zuständigen US-Behörden bei einem Hearing im Oktober folgt, könnten gewisse Unsitten der Branche bald Vergangenheit sein: etwa mehrfache Erwirkung der automatischen 30-monatigen „Schonfrist“ für einen Patentinhaber im Falle einer Patentklage gegen einen prospektiven Generika-Hersteller. Die Anmeldung immer weiterer, auch substanzloser Patente bei der US-Zulassungsbehörde FDA ermöglichte jeweils neue Patentklagen und neue Fristen. Selbst ein einmaliger Aufschub kann bei Blockbustern Milliarden Dollar wert sein – ob man die Prozesse dann verliert, ist völlig egal. Und schließlich dürfte auch ohne neues Gesetz wettbewerbswidrigen Übereinkommen zwischen Markenherstellern und Generika-Konkurrenten ein Riegel vorgeschoben werden.
In Europa, wo noch beträchtliche Preisdifferenzen existieren, sind es offiziell geförderte Parallelimporte, die der Branche das Wasser abgraben. In Großbritannien, Spitzenreiter in der EU, dürfte ihr Marktanteil bis Ende 2002 auf bereits 20% gestiegen sein. Immerhin: Um gegen die nächste Drohung, nämlich Importe aus den neuen EU-Beitrittsländern, gewappnet zu sein, wurden laut der Fachzeitschrift Pharmafocus schon Übergangsfristen von bis zu 15 Jahren vereinbart. Und auch für Generika besteht noch einiger Spielraum. Ihr Anteil an rezeptpflichtigen Medikamenten wird in den USA, Großbritannien, Deutschland und den Niederlanden bereits auf rund 50% geschätzt, während er in Frankreich, Italien und Spanien noch unter 10% liegen dürfte.

Die größte Gefahr für die forschende Pharmabranche könnte ihr jedoch nicht von außen, sondern von innen drohen: Ihre Innovationskraft scheint trotz hoher F&E-Aufwendungen und Biotech-Euphorie zu sinken. Eigentlich sollte jedes große Pharmaunternehmen pro Jahr zwei potenzielle Blockbuster oder das Äquivalent davon einführen, um seine Börsenbewertung zu rechtfertigen. Laut CMR International, einem unabhängigen Forschungsinstitut der Branche, dürften bis 2006 jedoch im Schnitt nur jeweils 1,3 neue pharmazeutische Wirkstoffe (New Molecular Substances, NMEs) auf den Markt gebracht werden. Sowohl Anträge als auch Genehmigungen von NMEs gingen zuletzt merklich zurück (siehe Grafik). Wenn die F&E versagt, helfen auch die in den letzten Jahren um sich greifenden Fusionen und Übernahmen (derzeit Pfizer und Pharmacia, ein 60-Mrd.-Dollar-Geschäft) nicht – damit wird der Kuchen bloß anders verteilt, aber nicht größer.
Dieser Rückgang gefährdet sogar das Budget der 1995 gegründeten EMEA, der zentralen EU-Begutachtungsbehörde (Europäische Agentur für die Beurteilung von Arzneimitteln), die wie die FDA (seit 1992) ihre Tätigkeit vor allem über „Benutzergebühren“ der Branche finanziert. Diese Gebühren waren eingeführt worden, um die Zulassungsverfahren zu beschleunigen: Je rascher ein Medikament eingeführt wird, desto länger ist auch die so genannte „Cash Cow“-Phase bis zum Ablauf des Patents. Die resultierende Abhängigkeit der Kontrollbehörde von den Unternehmen, deren Produkte sie zu kontrollieren hat, ist Konsumentenorganisationen wie Public Citizen (Ralph Nader) in den USA ein Dorn im Auge.
Jedenfalls machte sich die FDA mit einem Zick-Zack-Kurs wie im Fall des im Jahr 2000 zugelassen Lotronex verdächtig, ein Mittel gegen Reizdarmsyndrom (IBS) von GlaxoSmithKline (GSK). Ein Jahr später bewegte die FDA GSK dazu, das Mittel wegen einiger mit Lotronex in Verbindung gebrachten Todesfälle freiwillig vom Markt zu nehmen, um es dann aber mit neuen Sicherheitshinweisen wieder zuzulassen – offenbar auf heftigen Druck unter anderem von Konsumentinnen (Frauen gelten als zwei bis dreimal so häufig betroffen). Dass IBS hierzulande jedoch grundsätzlich als psychosomatische Erkrankung mit häufigem Gewalt- und Missbrauchshintergrund gilt, verweist auf ein anderes Problem mit der Pharmaindustrie: Sie verkauft jene Lösungen, die sie anbieten kann, nämlich Medikamente – und das mit gewaltigem Aufwand. Novartis hat für die Einführung eines eigenen IBS-Mittels am US-Markt allein in der zweiten Jahreshälfte 2002 127 Mio. Dollar veranschlagt. Das wollen die KonsumentInnen dann auch haben, ob patentiert oder nicht.

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