Mutter aller Krisen

Von Redaktion · · 2012/03

Die Vorbereitungen auf „Rio plus 20“, die Konferenz der Vereinten Nationen über nachhaltige Entwicklung im kommenden Juni, sind voll im Gange. Wenig Beachtung finden dabei die weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen und notwendigen Strukturreformen. Eine Analyse von Elmar Altvater.

Während der Jahrzehnte der Globalisierung ist die Ungleichheit in der Welt nicht kleiner, sondern größer geworden. Ja, sie ist so viel größer geworden, dass sie als ungerecht empfunden wird. Dafür ist auch die Gier verantwortlich, die einzelne Finanzmanager hat jede Rücksicht auf gesellschaftliche Normen vermissen lassen, vom Anstand des „ehrbaren Kaufmanns“ bis zur Rücksichtnahme auf eine Ausgeglichenheit der Belastung von Bürgerinnen und Bürgern. Besonders übel wird die Gier auch deshalb wahrgenommen, weil sie so völlig unangebracht und unverständlich ist – angesichts der vielen Peaks, die von geplünderten Ressourcen künden, und angesichts der drohenden Klimakatastrophe, die die Richtung der Evolution des Lebens nachhaltig verändern wird.

Gesellschaften kollabieren nicht, wenn sie in eine schwere ökonomische und finanzielle Krise geraten. Im Gegenteil, die ökonomischen Krisen sind eine Art „Jungbrunnen“ des Systems; Joseph A. Schumpeter spricht ihnen die Kraft der „schöpferischen Zerstörung“ zu. Die Rentabilität des Kapitals wird gesteigert und seine soziale und politische Herrschaftsbasis erneuert. Bei den menschengemachten Naturkatastrophen ist das anders. Diese Zerstörungen sind nicht reversibel, und ihnen folgt keine schöpferische Großtat. In der bisherigen Menschheitsgeschichte blieben in den ökologischen Katastrophen regionale oder lokale Kulturen auf der Strecke; die Gesellschaften auf den Osterinseln verschwanden, die Kulturen der Maya oder der Inka auch. In Zeiten der Globalisierung jedoch haben alle regionalen Krisenerscheinungen eine globale Reichweite; ein globaler Kollaps von Klima, Energieversorgung und Biodiversität und daher der Produktion von Nahrungsmitteln hätte nicht nur monetäre Verluste wie in der Finanzkrise zur Folge, sondern die Zerstörung menschlicher Lebensbedingungen, die Vernichtung von Menschenleben.

Die Industrieländer sind dafür hauptverantwortlich, dort befindet sich das Epizentrum der globalen Systemkrise, da residiert „die Mutter aller Krisen“: das Konsum- und Produktionsmodell der westlichen kapitalistischen Metropolen. Es verlangt hohe Zuwachsraten der Produktivität, ist auf Massenproduktion, folglich auf Massenkonsum ausgelegt. Es werden massenhaft Rohstoffe, fossile Energie, Landflächen verbraucht. Die Biodiversität wird monokulturell reduziert. Das sind Prozesse, die gemeinhin als Preis der „Globalisierung“ gelten. Zugleich sind die Industrieländer die Machtzentren der globalisierten kapitalistischen Welt und hätten daher das Potenzial, der umfassenden Krise von Finanzen und Wirtschaft, von Natur und Gesellschaft entgegen zu steuern. Doch werden zwar mit eiligen politischen Interventionen und mit viel Geld die Feuer im Finanzsektor zu löschen versucht, doch sie glimmen weiter und ein kleiner Windstoß bläst sie erneut zum großen Flächenbrand an. So ist es 2011 geschehen, nur drei Jahre nach der größten Finanzkrise seit 80 Jahren, als die Investmentbank Lehman Brothers zusammenbrach. Zur Bekämpfung der Brände in der reproduktiven Realwirtschaft, zur Schaffung von Arbeitsplätzen, zur Abkühlung des Treibhauses Erde oder bei der Energie- und Nahrungsmittelversorgung steht Geld hingegen nur unzureichend zur Verfügung. Da sind die bei der Rettung so genannter systemrelevanter Bankhäuser so freigiebigen Finanzminister auf einmal knausrig.

Die Ursachen der tiefsten Finanzkrise in der Geschichte des Kapitalismus reichen bis in die 1970er Jahre zurück, als nach dem Kollaps des Bretton-Woods-Systems fixierter Wechselkurse die Finanzmärkte liberalisiert und politische Regeln systematisch dereguliert wurden. Die weltweite Konkurrenz der Finanzstandorte wird mit hohen Renditen und Zinsen ausgetragen, so dass seit dieser Zeit die Profite des Finanzsektors sehr viel schneller wachsen als die „reale Ökonomie“. Das gilt für die Finanztransaktionen im Vergleich zu Welthandel oder Direktinvestitionen ebenso wie für Geldvermögensbestände oder Bankgewinne im Vergleich zu den Profiten in der „realen“ Ökonomie.

Die Logik des „schnellen Geldes“, also Kurzfristigkeit der Planung, Unternehmensführung gemäß dem Shareholder-Value-Konzept und halblegale, manchmal kriminelle Machenschaften bestimmen nun das unternehmerische Handeln.

Die gesamte Welt wird in den Krisenstrudel gezogen. Es zeigt sich, dass Renditen von 20% und mehr auf das Eigenkapital bei realen Wachstumsraten von 1 bis 2% (und weniger) die Ökonomie strangulieren und der Umwelt wegen des hohen Energieverbrauchs und der Auswirkungen der Emissionen auf das Klima irreparablen Schaden zufügen und die Welt in extrem reiche Prämien-, Boni- und Renditenbezieher und eine ebenso extrem wachsende Masse armer und schlecht ernährter, ja hungernder Menschen spalten. Der Finanztsunami löst nicht nur verheerende Finanzkrisen aus, er zerstört gesellschaftliche Strukturen und bringt immer wieder die sowieso prekäre Machtbalance innerhalb der Nationen und zwischen ihnen durcheinander. Die Masseneinkommen bleiben in diesem tollen Karussell zurück.

Die Finanzkraft der Staaten ist systematisch ausgehöhlt worden. Denn Banken und Unternehmen haben im Verein mit Beratungsinstitutionen, dem „wissenschaftlichen Sachverstand“, Medien, Rating-Agenturen und dem liberalen politischen Mainstream einen Wettbewerb um die niedrigsten Steuersätze (auf Kapital- und Finanzeinkünfte) ausgelöst, so dass in ganz Europa die Unternehmenssteuern abgesenkt worden sind, in Irland beispielsweise auf lächerliche 12,5%.

Daher ist es verfehlt, die öffentliche Verschuldung als ein Zeichen verantwortungslosen Haushaltens zu interpretieren. Sie ist vielmehr – Ironie der Geschichte – das Gegenteil: eine perverse Bedingung der Stabilisierung des privaten Finanzsystems. Den Banken geht es ja vor allem deshalb (noch) gut, weil sie von den Zentralbanken Geld zu sehr günstigen Konditionen erhalten, um es teuer an Staaten in Finanznot zu verleihen. Diese bringen hohe Gewinne und Prämien für die Manager, und es ist fast risikolos, denn letztlich spannen die Mitgliedsländer des Euroraums für die Staatsschulden den Rettungsschirm des „Stabilitätsmechanismus“.

Den gibt es nicht gegen die inzwischen desaströsen Folgen der Verbrennung fossiler Energieträger. Deren Emissionen konzentrieren sich als Treibhausgase in der Atmosphäre. Der Konzentrationsgrad ist von vorindustriellen ca. 280 ppm auf heute etwa 390 ppm angestiegen. Das ist bereits das Maximum, wenn der Temperaturanstieg im Verlauf dieses Jahrhunderts die Marke von 2°C nicht überschreiten soll. Dieser Anstieg gilt als Grenze der beherrschbaren Folgen des Treibhauseffekts, aber er ist willkürlich festgelegt, und möglicherweise liegt die Grenze der Beherrschbarkeit tiefer. Für mindestens 80% der Treibhausgaskonzentration sind die alten Industrieländer in Nordamerika und Westeuropa verantwortlich. Auch heute noch stammt der größte Teil der Emissionen aus den Auspuffs und Schloten der „reichen“ Länder. Der Anstieg der Erdmitteltemperatur hat bekanntlich größte Schäden zur Folge. Diese reichen vom Abschmelzen der Eiskappen an den Polen, dem Anstieg des Meeresspiegels, von Überflutungen küstennaher Gebiete, ausgedehnten Dürren mit Wüstenbildung bis zu ungewöhnlichen Wetterereignissen wie Hitzewellen oder zerstörerischen tropischen Stürmen und Überschwemmungen. Um diese Schäden einzudämmen, muss der CO2-Ausstoß radikal reduziert werden.

Dieser Beitrag erscheint in Zusammenarbeit mit dem ­Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung. Die ungekürzte Version des Textes ist im W&E-Hintergrund ­Februar 2012 erschienen.
www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org

Ob dann aber das wirtschaftliche Wachstum so gesteigert werden kann, dass wieder Renditen von 20% auf Finanzpapiere zustande kommen, ist mehr als fraglich.

Fraglich ist auch die Geldbewertung der Folgen des Klimawandels. Mit der Kalkulation der Kosten des Klimawandels in Euro oder US-Dollar wird implizit unterstellt, dass die Schäden reversibel und durch entsprechenden Geldaufwand zu vermeiden oder, wenn sie denn geschehen sind, zu beheben seien. Doch in Geld lassen sich Umweltschäden oder Veränderungen der Ökosysteme erstens nicht aufwiegen und zweitens nicht rückgängig machen. Die so genannte Internalisierung externer Effekte bzw. von sozialen Kosten wäre, wenn überhaupt, nur möglich, wenn die Schäden (die externen Effekte, die sozialen Kosten) nicht kumulativ und auch nicht irreversibel sind. Eine wirkliche Prävention ist nur möglich, wenn das Energieregime von der Quelle (der Extraktion des Öls aus dem Boden) bis zur Senke (der Deponierung der Treibhausgase in der Atmosphäre) umgebaut wird.

Aber die Kalkulation der monetären Kosten des Klimawandels und des Naturschutzes hat den Vorteil, dass Geldvermögensbesitzern, die auf der Suche nach renditeträchtigen Anlagen sind, nun Rohstofffonds, Öl-Futures, Derivate von Rohstoffwerten, Fonds über Ackerfläche in Afrika oder Lateinamerika oder Emissionszertifikate (CO2-Zertifikate) angeboten werden können. Klima- und Umweltpolitik werden mit der Finanzspekulation kompatibel gemacht. Die Finanzspekulation wendet sich Rohstoffen und Nahrungsmitteln zu und übt so einen Einfluss auf die Preise fossiler Energie für die Motoren der Autos und auf die Preise von biotischer Energie für die Ernährung von Menschen sowie auf die Wirksamkeit von Klimapolitik aus.

Spekulative und – wie viele Beispiele zeigen – auch kriminelle Akteure gewinnen auf wenig regulierten Finanzmärkten einen beträchtlichen Einfluss auf Klima-, Energie- und Rohstoffpolitik und auf die Ernährungssicherheit von Milliarden Menschen. Das ist politisch verantwortungslos. Den Spekulanten kann nicht die Zukunft der Menschheit ausgeliefert werden.

Elmar Altvater ist Autor und emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der FU Berlin.

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