

Die Menschenrechtskonsulentin Melinda Tamás war im November gemeinsam mit der NGO SOS Balkanroute in Bihać – einer Stadt im äußersten Nordwesten von Bosnien und Herzegowina, direkt an der EU-Außengrenze. Vor Ort verschaffte sie sich ein Bild der Lage jener Menschen, die trotz der häufigen und gewaltvollen Pushbacks immer wieder ihr Leben riskieren, um über Kroatien in die EU zu gelangen.
Sie waren sechs Tag in Bihać – was haben Sie dort gemacht?
Wir haben die Unterstützer:innen und Mitarbeitenden von SOS Balkanroute begleitet, die seit Jahren in dieser Stadt Hilfe leisten. Jeden Tag machen sie sich auf den Weg ins 25 Kilometer entfernte Camp Lipa, das auf einem Berg liegt und derzeit von etwa 300 bis 350 Menschen auf der Flucht u.a. aus Afghanistan, Pakistan, Syrien und Sudan bewohnt wird. Familien und Einzelpersonen leben dort unter äußerst prekären Bedingungen in Containern. Wir haben dringend benötigte Essens- und Kleiderpakete zum Camp gebracht und denjenigen zugehört, die bereit waren, ihre Geschichten mit uns zu teilen.
Was haben Sie erfahren?
Die meisten wollen nach Jahren der Flucht nur einen Ort finden, an dem sie sicher sind und ihre Zukunft planen können. Für manche muss das gar nicht unbedingt in der EU sein. Einige haben im Laufe der Zeit einzelne Kontakte geknüpft, die Sprache gelernt oder sogar Arbeit gefunden. Sie würden bleiben, doch ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht ist für sie faktisch unerreichbar. Also müssen sie weiter: Vom Camp aus machen sie sich auf den riskanten Weg zur Grenze.
Viele Menschen haben uns davon erzählt – und zahlreiche Berichte von NGOs und internationalen Organisationen bestätigen es: Wenn sie bei dem Versuch, die Grenze zu überqueren, von kroatischen Grenzbeamt:innen oder deren Hunden aufgegriffen werden, kommt es immer wieder zu Gewalt. Einige berichten von Schlägen, von weggenommenen Handys oder Schuhen, und davon, dass sie zurück in den eiskalten Fluss gedrängt wurden.
Verletzt, unterkühlt oder ihrer Habseligkeiten beraubt kehren viele ins Camp zurück. Einige werden unterwegs von Helfer:innen notdürftig versorgt. Viele Menschen aus der lokalen Bevölkerung möchten sie unterstützen, stoßen jedoch an enge rechtliche und praktische Grenzen.
Und welche Geschichte hat Sie besonders bewegt?
Bei einem Mann aus dem Sudan, der über mehrere Stationen – unter anderem Libyen – nach Bihać gelangt war, blieb mir vor allem sein Blick in Erinnerung: eine Mischung aus Hoffnungslosigkeit, der Erschöpfung jahrelanger Unsicherheit und Angst sowie der Würdelosigkeit, mit der ihm vielerorts begegnet wird.
Ein anderer, ein junger Mann aus Sierra Leone, erzählte uns, dass er seit drei Jahren in Bosnien lebt. Er hat die Sprache gelernt und sogar Arbeit gefunden. Er würde gerne genau dort bleiben – doch sein Asylantrag wurde abgelehnt.
Wie ist das mit den Politiker:innen in Bosnien – was tun die oder eben nicht?
Der Bürgermeister von Bihać würde nach eigenen Angaben gerne rund 50 Menschen einen legalen Aufenthalt ermöglichen – nicht zuletzt, weil die Stadt unter Fachkräftemangel leidet. Doch er hat keinerlei Entscheidungsspielraum: Asylbescheide werden ausschließlich auf nationaler Ebene gefällt und dort dominieren andere politische Interessen. Während die EU die Überwachung dieser Grenzen mit hohen Summen finanziert, kommt es dort regelmäßig zu Gewalt und Menschenrechtsverletzungen. Dieselben Mittel könnten stattdessen in den Aufbau eines funktionierenden Asylsystems in Bosnien fließen oder in sichere Zugangswege. Viele der Menschen, die heute unter widrigsten Bedingungen in Camps leben, könnten in Europa dringend benötigte Fachkräfte sein.
Aber das Gegenteil ist der Fall: Zahlreiche Organisationen berichten seit Jahren von Pushbacks an der kroatischen Grenze. Diese Praxis ist bekannt, dokumentiert – und wird faktisch geduldet.
Was denken Sie, wenn Sie hören, dass die Balkanroute „geschlossen“ werden muss?
An die Gesichter der Menschen, denen ich begegnet bin. An Eltern, die alles daransetzen, ihre Kinder in Sicherheit zu bringen. An junge Männer, die nichts mehr besitzen außer ihrer Hoffnung. Und an Frauen, die jahrelang auf der Flucht waren und weitergehen müssen, weil Zurückkehren keine Option ist. Hinter dieser oft zitierten „Route“ stehen Menschenleben. Da werden Menschenrechte verletzt. Es reicht nicht, diese bloß zu dokumentieren – ihre Einhaltung muss aktiv geschützt werden. Das sollte die Aufgabe der Europäische Union sein.
Und wir dürfen nicht so tun, als hätten die Lebensrealitäten dieser Menschen nichts mit unserem Leben zu tun. Unser Wohlstand, unsere privilegierte globale Position – sie stehen in Beziehung zu den Krisen, Konflikten und Ungleichheiten, vor denen andere fliehen. Niemand verlässt sein Zuhause leichtfertig. Viele fliehen, weil sie überleben wollen, weil Krieg, Verfolgung oder Perspektivlosigkeit ihnen keine andere Wahl lassen.
Eine gewaltvolle „Abriegelung“ der Außengrenzen mag kurzfristig als Sicherheitsstrategie erscheinen, aber langfristig schafft sie weder Sicherheit noch Stabilität – im Gegenteil: Sie erzeugt Leid, Gewalt und Rechtsbrüche und untergräbt die Werte, auf die sich die EU beruft.
Interview: Christina Schröder
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