Neues Leben für einen sterbenden Fluss

Von Susanna Hagen · · 2009/02

44 Flüsse durchkreuzen den kleinen südindischen Bundesstaat Kerala, von denen einige durch unkontrollierten Sandabbau und illegale Abholzung schwer gefährdet sind. Ein junger indischer Reiseveranstalter zeigt, wie man mit verantwortungsvollem Tourismus einen Fluss rettet.

Knapp fünf Jahre ist es her, dass Gopinath Parayil von England nach Hause gerufen wurde, um als ältester Sohn für seinen verstorbenen Vater das Begräbnisritual zu leiten und dessen Asche in den Nila-Fluss zu streuen, als ihm auffiel, dass dieser kurz vor dem Austrocknen stand. „Von da an war ich fest entschlossen, mein Leben dem Nila zu widmen und zu helfen, ihn wieder zu beleben“, sagt der Umwelt- und Sozialaktivist.
Gopinath, kurz Gopi genannt, gibt seine Laufbahn als „Chaos-Manager“ auf, zieht nach Kerala zurück und sucht in seinem Freundeskreis nach Verbündeten, mit deren Hilfe er 2003 die „Nila Foundation“ gründet. Ihre Recherchen ergeben, dass vor allem der unkontrollierte Sandabbau die Schuld am Sterben des längsten Flusses in diesem Bundesstaat trägt. Die Stiftung gibt eine Langzeitstudie über den Zustand der Wasserwege in Auftrag. Um deren Finanzierung zu sichern, gründet Gopi 2004 die erste Reiseagentur für verantwortungsvollen Tourismus in Indien, The Blue Yonder (TBY), deren Gewinne zu einem Fünftel an die Fluss-Stiftung gehen.
In hunderten Gesprächen überzeugen Gopi und sein Freund Arun die Menschen am Fluss und machen sie zu gleichberechtigten Partnern: Intellektuelle, Künstler und Handwerkerinnen, Reis- und Gewürzbauern, Lehrerinnen und Studenten. Für sie ist der Nila die Lebensader, die auf vielfältige Weise Keralas Geschichte geprägt hat. Sie wissen, dass mit dem Fluss früher oder später auch die anliegenden Dörfer und damit ihre einzigartige Kultur sterben würden.
Es ist September, die Monsunzeit ist gerade vorbei, eigentlich sollte der Nila (auch Bharatapuzha genannt) einen hohen Wasserstand haben. Stattdessen ragen Inseln aus dem flachen Wasser, auf denen Sträucher wuchern. Die sandigen Ufer thronen meterhoch über dem Wasserpegel. Stellenweise kann man im leeren Flussbett spazieren gehen. Der Grundwasserspiegel in den Dörfern am Nila sinkt kontinuierlich. Tag für Tag kommen Karawanen von Lastwägen, die Tonnen von Bausand aufladen und wieder verschwinden. Manche haben eine entsprechende Lizenz, die meisten nicht.
Der Grund für den immensen Bedarf an Sand ist die hohe Bevölkerungsdichte: Pro Quadratkilometer leben in Kerala durchschnittlich 856 Menschen (Vergleich Österreich: 99,5). Drastische Armut findet man kaum, da seit mehr als fünf Jahrzehnten der „indische Kommunismus“ die Politik des Bundesstaats bestimmt, der von Anfang an auf Agrarreformen und Bildung setzte. Zum relativ hohen Lebensstandard tragen auch die Einkommen jener Menschen aus Kerala bei, die gut bezahlte Jobs in den Golfstaaten gefunden haben. In jeder Familie gibt es mindestens einen davon. Mit ihrem hart verdienten Geld bauen sie sich regelrechte Paläste mit bis zu 400 m2 Wohnfläche, die Unmengen von Bausand verschlingen.

Weitere schädliche Faktoren sind elf Dämme, die in den letzten Jahren zwischen der Quelle des Nila im Bundesstaat Tamil Nadu und seiner Mündung im Arabischen Meer gebaut wurden. Einerseits unterbrechen sie den natürlichen Lauf des Flusses, andererseits wurde im Zuge der Dammbauten großflächig abgeholzt. „Obwohl man es bei all dem Grün, das Keralas Landschaft prägt, nicht vermutet: Es gibt fast keine Bäume mehr, nur Kokospalmen und ein paar Straucharten“, zeigt sich ein Gewürzfarmer beunruhigt.
Das für Indien bahnbrechende Tourismuskonzept von TBY ermöglicht es den Menschen am Fluss, direkt am Fremdenverkehr zu partizipieren und ein zusätzliches Einkommen zu lukrieren. Aber auch die BesucherInnen profitieren von dem neuen Ansatz: Sie erleben ein durch und durch authentisches Kerala mit allen seinen Düften, Farben und Tönen. Mit großer Sorgfalt wird darauf geachtet, dass sich die DorfbewohnerInnen nicht gestört fühlen, vielmehr kommt es zu Begegnungen, die für beide Seiten bereichernd sind. TBY zeigt den Reisenden dörfliche Kulturen, die sie sonst nie zu sehen bekämen. Man trifft Geschichtenerzähler, traditionelle Heilerinnen, Handwerker, Gewürzbauern und -bäuerinnen, Meister der keralesischen Kampfsportarten und Ayurvedaärzte oder verbringt einen Tag mit den Tempelmusikern tief im Dschungel. Durch den Zuspruch der BesucherInnen werden Minderheiten wie die Kastenlosen darin gefördert, ihre Traditionen zu erhalten. So manche Kastengrenze wurde durch dieses Engagement schon aufgeweicht. Für die Flussfahrten werden ehemalige Sandschmuggler angestellt, die den Nila wie ihre Westentasche kennen und ihre Boote mit großem Geschick zu lenken wissen. „Auf diese Weise verdienen sie zwar viel weniger, dafür können sie aber in Würde arbeiten“, so Gopi.
Zu den faszinierendsten Attraktionen zählt die Musik- und Tanzakademie Kalamandalam in Cheruthuruthy, wo 500 Schülerinnen und Schüler uralte Kunstformen wie Kathakali oder Kutiyattam trainieren. Letzteres ist die keralesische Form des Sanskrit-Theaters und die älteste, über 1.000 Jahre kontinuierlich gepflegte Schauspieltradition der Welt. Jeder Schüler, jede Schülerin spezialisiert sich auf eine der Kunstarten, die er oder sie mindestens acht Jahre lang täglich bis zu acht Stunden trainiert. „Das hat nichts mit Vorführungen zu tun, wie man sie oft in Hotels zu sehen bekommt. Die jungen Künstler widmen der Kunst ihr ganzes Leben und das spürt man“, meint eine beeindruckte Besucherin aus Österreich.

Auch die lokalen Handwerkskünste bezieht The Blue Yonder ins Programm ein, so z.B. den alten Töpfer Gopalam, der zwar Kinder und Enkelkinder hat, von denen aber keines das schlecht bezahlte Handwerk fortführen wird. Diese Problematik wird den Reisenden ebenso näher gebracht wie weitere Missstände – so erhält ein Glockengießer für einen Messingkrug, der am Markt 1.000 Rupien (16,40 Euro) kostet, keine 200 Rupien bezahlt.
Untergebracht werden die Gäste entweder im einfachen aber charmanten Hotel River Retreat, auf kleinen Gewürzfarmen oder im 350 Jahre alten Haus einer Brahmanenfamilie. Der kulinarische Genuss kommt dabei nicht zu kurz: Die köstlichen, meist vegetarischen Gerichte werden auf einem Bananenblatt serviert; gegessen wird auf dem blitzblanken Boden.

Gopi stellt sich der Herausforderung, „verantwortlich“ zu sein, wie er kürzlich auf einer Konferenz des „International Institute for Peace through Tourism“ an der Stenden Universität in Leeuwarden (NL) erläuterte. 130 Menschen haben derzeit durch The Blue Yonder einen zusätzlichen Verdienst. „Sie sind stolz, ihre Kultur und ihren Fluss zu zeigen, und dieser Stolz macht sie auch zu Wächtern des Flusses.“ Transparenz ist dabei ein tragendes Element. Alle Entschlüsse werden gemeinsam mit den Menschen am Nila getroffen, alle Einkünfte werden aufgeteilt. Die BesucherInnen erhalten vor der Tour eine genaue Aufstellung, was ihre Reise für die Menschen und die Natur bewirkt. Während ihres Aufenthalts können sie deren Richtigkeit überprüfen und ihre Erfahrungen an TBY rückmelden.
Die internationale Reisebranche wurde längst auf The Blue Yonder aufmerksam und bedachte den Veranstalter mit diversen Auszeichnungen wie z.B. den „Responsible Tourism Award“. „Der wertvollste Preis kam allerdings von unseren eigenen Leuten, eine von Hand gestaltete Tonscheibe als Dankeschön dafür, dass TBY das Leben der Menschen zum Besseren gewendet hat“, freut sich der Gründer der Agentur.
An Ideen mangelt es dem 35-Jährigen nicht: Im August hat er mit Hilfe einer befreundeten Brahmanen-Familie den ersten „Travelers Forest“ am Nila eröffnet, wo seine Gäste gegen eine freiwillige Spende Bäume pflanzen können. Für jeden Reisenden zahlen TBY und seine Hotelpartner einen Beitrag für die dringend nötigen Aufforstungsarbeiten. Die Verantwortung für die Pflege der Pflanzen trägt die Dorfjugend. Weitere Projekte dieser Art sind ebenso geplant wie die Einführung von Biogasöfen oder der Bau eines Modellhauses mit möglichst geringem Sandbedarf. „Wir werden nicht aufgeben, obwohl wir unseren Break-Even noch lange nicht erreicht haben. Aber wir haben viele Erwartungen in den Menschen geweckt – ich habe so viele lächeln gesehen“, gibt sich Gopi vorsichtig. Die Ergebnisse der Langzeitstudie über den Zustand der Flüsse Keralas werden noch in diesem Jahr veröffentlicht.

Die Autorin arbeitete jahrelang als Redakteurin in einem Reisefachverlag und lebt nunmehr als freie Reisejournalistin im niederösterreichischen Waldviertel.

Weitere Informationen:
www.theblueyonder.com
www.nilafoundation.org

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