Nichts Neues in Chihuahua

Von Jan Kreisky · · 2005/03

Anfang Februar wurde in Ciudad Juárez der dritte Bericht der Sonderstaatsanwaltschaft, die in der Frauenmordserie ermittelt, präsentiert. Angehörige der Opfer zeigten sich enttäuscht über den mangelnden Fortschritt bei den Ermittlungen. Das Morden geht weiter.

Wenige verurteilte Täter gingen bisher aus den Ermittlungen der Frauenmorde von Ciudad Juárez, der Grenzstadt des mexikanischen Bundesstaates Chihuahua zu den USA, hervor. Durch Fahrlässigkeit, Inkompetenz der Behörden und Zuständigkeitsprobleme werden Opfer und deren Familien nach der Gewalt, die sich gegen Frauen als solche richtet, zusätzlich diskriminiert.
Nationale und internationale Menschenrechtsorganisationen haben wenigstens Schuldige dafür ausgemacht: in erster Linie die Regierung Chihuahuas, aber auch das mexikanische Justizwesen und die Bundesregierung des Präsidenten Vicente Fox.
Die unabhängige Mexikanische Menschenrechtskommission (CMDPDH) brachte 2003 den Fall von Paloma Escobar Ledesma vor die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte. Die 17-jährige Paloma war am 2.März 2002 verschwunden. Ihre letzte Nachricht an die Eltern war, dass sie zum Computer-Unterricht in die Schule „Ecco“ gehen musste. Im Umfeld der Schule, die jetzt nicht mehr in Betrieb ist, hatte es schon einige ähnliche Vorfälle gegeben. Vier Wochen später wurde ihre Leiche gefunden.
Der Moment der Bergung und die Sicherung der Leiche sind normalerweise entscheidend für den Fortgang der Ermittlungen. Bei der Leiche Palomas wurde, laut der mexikanischen NGO, derart dilettantisch vorgegangen, dass die späteren Ermittlungen geradezu ins Leere laufen mussten. Hinzu kommt die Konstruktion von Schuldigen. Die Polizistin Gloria Cobos ließ Fotos des Ex-Freundes von Paloma am Fundort der Leiche zurück. Der Versuch, die Ermittlungen irrezuleiten und den Täter zu schützen, kam ans Licht. Obwohl die Polizistin zu elf Monaten Gefängnis verurteilt wurde, zahlte sie lediglich eine Strafe und arbeitet weiterhin für die Polizei Chihuahas. Nach drei Jahren weiß man noch immer nicht, wer der Mörder von Paloma Escobar ist.

Nach zahlreichen Berichten und Empfehlungen internationaler und nationaler Organisationen in den letzten Jahren stellte im Jänner 2005 der UN-Ausschuss für die Beseitigung der Diskriminierung der Frauen (CEDAW) in einem Bericht zu den Ermittlungen der lokalen Staatsanwaltschaft und der Polizei immer noch fest: mangelnde Seriosität bei der Suche der verschwundenen Frauen, ungerechtfertigte Verspätung bei der Aufnahme von Nachforschungen, Konstruktion falscher Beweise, Vernichtung von Beweisen usw. …
„Die Regierung von Chihuahua will uns spalten und deorganisieren“, beklagt Norma Andrade von der Mütterorganisation „Nuestras Hijas de Regreso a Casa“ („Unsere Töchter am Heimweg“). Müttern und Familien der Opfer werden von der Regierung Geld oder Grundstücke angeboten. Die großteils armen Familien geraten in die schwierige Lage, gegenüber Beamten, die ihnen Unterstützung zukommen lassen wollen, Gerechtigkeit für ihre Töchter zu fordern. „Aufklärung und eine Entschuldigung des Staates dafür, den Opfern selbst die Schuld an den Verbrechen zugeschoben zu haben“, verlangt Marisela Ortiz, Direktorin dieser Organisation.
Auch über die genaue Zahl der Mordfälle besteht Unklarheit. Die mexikanische Bundesregierung berichtete 2003 gegenüber der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte von 114 mit Urteil abgeschlossenen Fällen von insgesamt 326 Morden. In den Gefängnissen sitzen 28 Täter. Einige der mutmaßlichen Täter sollen laut Menschenrechtsorganisationen unschuldig sein.
Nach zehn Jahren erfolgloser Aufklärungsarbeit der lokalen Behörden und zunehmendem internationalem Druck unternahm die Bundesregierung 2003 einen neuen Anlauf. Die Regierung von Präsident Vicente Fox hatte sich ja vor allem die Einhaltung der Menschenrechte auf ihre Fahnen geschrieben. Sie betraute erstmals eine Bundesstaatsanwaltschaft mit den Ermittlungen. Die neue Sonderstaatsanwältin María López Urbina gab nun zwar eine Liste von 81 „fahrlässigen“ Beamten der Behörden Chihuahuas bekannt, doch blieb dies ohne besondere Folgen.
Die Regierung nominierte auch Guadalupe Morfín als Sonderbeauftragte für Vorbeugung und Beseitigung von Gewalt gegen Frauen. Ihre Kommission ist mit geringen Mitteln ausgestattet und sollte vor allem die Aktivitäten der Ministerien koordinieren. „Es sollte nur eine einzige Instanz umfassende Untersuchungen durchführen, um keine Fährten zu verlieren“, deutet sie nebulos im Gespräch mit dem Autor dieses Beitrags an. Das Gros der Fälle bleibt weiterhin den korrupten Behörden Chihuahuas überlassen; Bundesermittlerin Urbina zog lediglich 14 Fälle an sich.
Morfín bestreitet die von einer Kommission des Abgeordnetenhauses vorgelegten Daten, wonach sich im Vorjahr die Zahl der ermordeten Frauen von 10 (2003) auf 22 erhöht habe. Und weicht allen kritischen Fragen diplomatisch aus.

Zumindest an die hundert Morde folgen einem ähnlichen Muster und werden als „Serienmorde sexueller Gewalt“ klassifiziert. Serienmorde organisierter Kriminalität fallen unter bundesstaatliche Rechtssprechung. Die Bundesstaatsanwaltschaft könnte also ohne weiteres wenigstens diese Fälle an sich ziehen. KritikerInnen werfen der Bundesregierung jedoch fehlenden politischen Willen vor.
Sergio González Rodríguez, Journalist der Tageszeitung „Reforma“ und Autor des in Mexiko Aufsehen erregenden Bestsellers „Huesos en el desierto“ (Knochen in der Wüste), geht noch weiter: „Die Bundesregierung schützt den total korrupten Staat von Chihuahua unter dem Vorwand, die Souveränität dieses Staates zu respektieren. Sie will keine tiefer gehenden Untersuchungen, um Probleme, die sich aus dem Netz von Komplizenschaften ergeben könnten, zu vermeiden.“ So hätte etwa laut González die Familie Zaragoza Fuentes, gegen die Untersuchungen in Chihuahua wegen Verwicklung in den Drogenhandel laufen, die Wahlkampagne von Präsident Fox mitfinanziert. Er spricht in seinem Buch auch von Festen von Kriminellen, Beamten, Politikern und Unternehmern, bei denen vergewaltigt und getötet wird.
Die Frauenmorde von Ciudad Juárez werden auch mit dem Chihuahua dominierenden Drogenhandel in Verbindung gebracht – das Kartell dieser Stadt ist wahrscheinlich das einflussreichste und größte Lateinamerikas überhaupt. Doch nicht nur Drogen, sondern auch Waffen, Schmuggel von Erdgas, das Schlepperwesen und Prostitution gehören zu den einträglichen Geschäften. Immense Dollar-Summen werden in sämtlichen Bereichen der Gesellschaft Chihuahuas investiert.
Es ist, als würde sich ein undurchdringliches Netz von Korruption und Komplizenschaften über dem Phänomen der Frauenmorde ausbreiten. Beamte werden gekauft oder bedroht, mafiöse Bruderschaften üben Schweigen. Einflussreiche Unternehmer, die sowohl mit illegalen Geschäften als auch mit den Serienmorden in Verbindung gebracht werden, genießen beste Verbindungen zu den Schaltstellen politischer Macht, von wo aus Untersuchungen gestoppt, Namen aus den Akten getilgt werden. Und so wird die Forderung der Familienangehörigen der Opfer: „Ni una más!“ (kein einziger Mord mehr) weiterhin ungehört in der Wüste von Ciudad Juárez verhallen.

Jan Kreisky lebt zu Studienzwecken in Mexiko, recherchiert über illegale Siedlungen in der Hauptstadt und ist als freier Publizist tätig. Zu Ciudad Juárez siehe auch Artikel in SWM 5/2000 und 3/2004.

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