„Noch nicht genug verändert“

Von Redaktion · · 2016/11

Elnathan John, Shootingstar der nigerianischen Literatur, über seinen Debütroman, Boko Haram und Präsident Buharis Performance.

Ihr zentrales Thema ist der Konflikt im Norden Nigerias, den Sie als multidimensional bezeichnen. Was meinen Sie damit?

Die Ursachen für den Konflikt können nicht auf Religion, Politik oder Armut allein reduziert werden, denn diese sind eng miteinander verflochten. Boko Haram etwa ist nicht als Gruppe von Bösewichten entstanden, die durch die Straßen gingen und Leute töteten. Boko Haram hat als religiöse Ideologie von Leuten begonnen, die eine Verankerung der Scharia wollten. 1999 gab es diesbezüglich in mehreren Bundesstaaten im Norden Nigerias Initiativen. Einige Kleriker waren dann vom Ergebnis enttäuscht, sie sahen eine verwässerte Version dessen, was sie erhofft hatten. Sie wandten sich vom Dialog ab und begannen, andere Kräfte zu unterstützen. Einer dieser Enttäuschten war Mohammed Yusuf, der Mann, der Boko Haram gründete.

Und welche Rolle spielt Armut?

Für eine Ideologie braucht man Fußsoldaten. In Nigeria kommen diese Fußsoldaten meist aus der Schicht armer, zorniger, junger Menschen. Doch das bedeutet wiederum auch nicht, dass es Boko Haram nur um soziale Themen geht. Jene, die den Kampf finanzieren, sind selbst Politiker. Und die Leute, die die dahinterstehende Ideologie forcieren, sind religiös und selbst von dieser Ideologie angetrieben.

Sie sind selbst in der nordnigerianischen Stadt Kaduna aufgewachsen. Was hat sich dort seit Ihrer Kindheit verändert?

In den frühen 1980er Jahren war Kaduna kosmopolitisch und gemischt, es gab Christen und Muslime, die als Nachbarn nebeneinander lebten. Wir haben als Kinder miteinander gespielt. In den 1990er Jahren, als die Politik Nigerias mehr und mehr versagte, begann Religion eine größere Rolle zu spielen. So läuft das immer: Wenn es keine funktionierende Regierung gibt, werden Kirche und Moschee zu den mächtigsten Elementen einer Gesellschaft. Die Einführung der Scharia 1999 führte zu einer tiefen Krise und gewalttätigen Auseinandersetzungen. Es kam zu Todesopfern auf beiden Seiten. Der gesamte Bundesstaat spaltete sich in einen muslimischen und einen christlichen Teil. Christen übersiedelten in die christlich dominierten Stadteile und Muslime in die muslimisch dominierten. Heute aufwachsende Kinder lernen die Vielfalt von einst nicht mehr kennen, diese Segregation führt zu noch größeren Konflikten. Menschen, die sich nicht verstehen, hassen sich schneller.

Als ich jung war, stand gegenüber meinem Haus eine Moschee. Ich bin immer durch diese durchgegangen, um den Weg abzukürzen. Heute geht das nicht mehr, weil es in dem Stadtteil, in dem meine Familie wohnt, nur mehr Kirchen gibt. Das ist wirklich traurig.

Elnathan John wurde 1982 in Kaduna, der Hauptstadt des gleichnamigen Bundesstaates, geboren. Nach seinem Studium der Rechtswissenschaften arbeitete er als Jurist und begann nebenbei zu schreiben. Mit satirischer Kurzprosa machte er sich in Nigeria rasch einen Namen, unter anderem schreibt er eine Kolumne für die Zeitung „Sunday Trust“.

2015 erschien Johns Debütroman „Born on a Tuesday“ auf Englisch bei Grove Press. Die deutsche Übersetzung folgt 2017 beim Verlag Das Wunderhorn. Das viel gelobte Buch widmet sich dem Konflikt im Norden Nigerias aus der Perspektive eines jugendlichen Koranschülers.

Ihr Roman „Born on a Tuesday“ beschreibt diese Konflikte aus dem Blickwinkel eines jungen Koranschülers. Sie selbst kommen aus einer christlichen Familie. Wie viel eigene Erfahrung steckt in dem Buch?

Das Buch ist zum überwiegenden Teil Fiktion. Die Inspiration dafür kam sowohl durch persönliche Erfahrungen sowie im Zuge von Recherchen. Die wichtigste Inspirationsquelle war ein junger Mann namens Basiru, ein Almajiri, ein junger Koranschüler. Er jobbte immer wieder an meiner Universität, wusch Geschirr oder Kleidung und Ähnliches. Niemand kannte seinen Namen. Es gibt Millionen solcher junger Koranschüler im Norden Nigerias. Trotzdem wissen viele nicht über sie Bescheid. Auch mir sind Leute wie er zwar schon davor über den Weg gelaufen, aber ich habe ihnen nie Aufmerksamkeit geschenkt. Als ich begonnen habe, Basiru zuzuhören, habe ich einen tieferen Einblick bekommen.

2015 wurde Muhammadu Buhari zum Präsidenten gewählt und viel Hoffnung in ihn gesetzt. Wie sehen Sie die Entwicklung seither?

In mancherlei Hinsicht hat sich die Situation verschlimmert, in anderer scheint es Grund für Optimismus zu geben. Beispielsweise sind viele jener Personen, die große Geldbeträge gestohlen haben, nun auf der Flucht. Der Präsident hat im Frühjahr 2016 angekündigt, einige der Vermögen ins Land zurückzubringen, die etwa in London gehortet werden. Korruption ist aber nach wie vor eine Herausforderung. Vielleicht ist Buhari selbst nicht korrupt, aber mit Sicherheit einige Personen aus seinem Umfeld. Gleichzeitig ist die allgemeine Gleichgültigkeit stärker geworden – etwa gegenüber der Art und Weise, wie die Armee im Zuge des Kampfes gegen Boko Haram Zivilisten tötet. Auch in Sachen Wahlen kann das Resümee kein gutes sein. Im Zuge der Regionalwahlen, die seit dem Beginn von Buharis Präsidentschaft stattgefunden haben, kam es – genauso wie es vorher war – immer wieder zu Protesten und viel Gewalt, Todesopfer inklusive. Da hat sich nicht viel geändert.

Was ist von Buhari noch zu erwarten?

Wir werden sehen, ob er seine Zeit nutzt, um ein Fundament für Veränderungen zu legen. Bis jetzt hat sich noch nicht genug verändert. Ein Problem mit Buhari ist, dass er nicht gut kommuniziert und niemand genau weiß, was er wirklich vorhat, nicht einmal sein direktes Umfeld. Und trotz alledem scheinen viele Menschen in Nigeria immer noch Hoffnungen in den neuen Präsidenten zu setzen.

Haben nigerianische Schriftstellerinnen und Schriftsteller wie Sie eine politische Rolle?

Ich kann nur für mich selbst sprechen. Meine Aufgabe ist es, die Geschehnisse, die bereits erzählt wurden, auszuloten und neue Dimensionen hinzuzufügen. Im Zusammenhang mit dem Konflikt im Norden Nigerias bedeutet das nachzufragen: Wer sind die Akteure? Wer sind die Menschen im Norden Nigerias? Was sind ihre Ängste und Sorgen? Wie stehen sie in Beziehung zu der Welt um sie herum? Wenn man persönliche Geschichten gut schreibt, dann ist das politisch. Jedes Kunstwerk, das sich mit menschlichen Individuen auseinandersetzt, wird automatisch zu einer soziologischen Arbeit, einer Studie über die Gesellschaft. Und jede soziologische Arbeit hat eine politische Dimension. Wir Schriftsteller sind Chronisten unserer Geschichte. Wir erzählen von Menschen, die komplex sind und ernstgenommen werden müssen.

Interview: Simon Loidl

Simon Loidl ist freier Journalist und Historiker, er lebt in Wien.

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