Pinke Unterwäsche für Moralapostel

Von Redaktion · · 2017/09

Wie kreativ und vielfältig die feministische Bewegung in Indien ist und wie sie es geschafft hat, sich nicht zu spalten, beschreibt Urvashi Butalia.

Wer an das Thema Frauen in Indien denkt, hat häufig sofort Bilder von Gewalt und Vergewaltigungen im Kopf. Jenseits dieser medialen Zuspitzung gibt es für Frauen viel mehr Themen, zu denen sie aktiv sind. Die Frauenbewegung blickt auf eine lange Geschichte zurück und hat einige Fortschritte erkämpft. Auch heute hat Feminismus für junge Frauen nicht an Anziehungskraft verloren.

Im Jahr 1852 kam die elfjährige Mukta Salve, ein junges Mädchen aus dem indischen Bundesstaat Maharashtra, in die Millionenstadt Pune. Sie besuchte dort eine Schule, die die Bildungspionierin Savitirbai Phule und ihr Ehemann Jyotiba Phule für Mädchen aus armen Familien und niederen Kasten gegründet hatten. Für Mukta war dies die erste Möglichkeit, zu lernen. Drei Jahre später, im Alter von vierzehn Jahren, schrieb sie eine Art offenen Brief an die höheren Kasten, die Brahmanen, die bis dato die Welt des Wissens dominiert hatten und anderen den Zutritt dazu verwehrten.

„Oh, ihr gelehrten Pandits“, begann die junge Mukta, „hört mit dem selbstsüchtigen Geschwafel eurer dumpfen Weisheit auf und horcht, was ich zu sagen habe.“ Es folgte eine scharfe Kritik an der Praxis, niederen Kasten und Frauen die Bildung vorzuenthalten.

Etwa 30 Jahre später veröffentlichte Tarabai Shinde, eine 32-jährige Frau aus Maharashtra, eine gepfefferte Kritik an Patriarchat und Kaste. Sie hatte den Text „Ein Vergleich zwischen Männern und Frauen“, der als eine der ersten feministischen Abhandlungen Indiens gilt, als Antwort auf einen Zeitungsartikel geschrieben, der von dem Schicksal einer Witwe und ihrem nichtehelichen Kind handelte.

Zu unsichtbar. Heute findet in Indien ein rasanter Wandel statt, und die Frauen sind mittendrin, wenn ihre Rolle auch nicht immer offensichtlich ist. In dem Bild als aufstrebendes Schwellenland, Supermacht und blühende Demokratie ist wenig von Frauen zu sehen, auch wenn sie manchmal in hohen Positionen politischer Parteien oder von Wirtschaftsunternehmen auftauchen. Doch der Wandel ist breiter und tiefgehender.

Viele der Frauen, die Teil der Frauenbewegung sind, bezeichnen sich selbst nicht als feministisch, weil sie dieses als ein westliches Konzept ansehen, das nicht ihrer Wirklichkeit entspricht. Dem Beispiel von Tarabai Shinde, Savitribai Phule oder Mukta Salve im 19. folgten im 20. Jahrhundert tausende Frauen, die den Kampf gegen die Fremdherrschaft unterstützten und auf den Straßen für einen Abzug der Briten mobilisierten.

Der Feminismus, wie wir ihn heute kennen, begann in den 1970er Jahren im unabhängigen Indien. Die erste große, landesweite Kampagne richtete sich gegen Gewalt gegen Frauen, vor allem Vergewaltigungen.

Die Kampagne führte dazu, dass das entsprechende Gesetz für Vergewaltigungen nach fast 150 Jahren geändert wurde.

Die 1970er und 1980er Jahre sahen Kampagnen zu Themen wie Umwelt, Landrechte, Ehe- und Scheidungsrecht, Mitgift, Erbschaftsrecht oder das Recht auf Ernährung. „Gebt uns das Indien, das ihr bei der Unabhängigkeit versprochen habt“, forderten die Frauen, „wir sind auch Bürgerinnen.“

Anfang der 1970er Jahre gab die indische Regierung einen Bericht über Frauen in Auftrag. Der Bericht unter dem Titel „In Richtung Gleichheit“ zeichnete ein beunruhigendes Bild der Lage der Frauen und belegte, wie der Staat versagt hatte. Er wurde zu einer Art „Bibel“ der Frauenrechtsbewegung, die dessen Erkenntnisse nutzten, um Änderungen einzufordern.

Verbreiterung. In den folgenden Jahren wurde die Bewegung breiter und wuchs. Heute hat praktisch jede politische Partei, ob links, rechts oder in der Mitte, einen frauenpolitischen Flügel. Deren Ideologien unterscheiden sich oft grundlegend voneinander und manchmal sind sie nicht einmal feministisch orientiert. Doch zeigt dies eindrücklich, dass die Politik sich mittlerweile auch an Frauen richtet und versucht, deren Belange programmatisch aufzunehmen.

Daneben gibt es Gruppen, die sich als autonom bezeichnen, und deren Aktivismus an die Kampagnen der Vergangenheit erinnert. Sie schließen sich zusammen, um für bestimmte Themen zu kämpfen oder ein öffentliches Bewusstsein dafür herzustellen.

Das soll nicht heißen, dass es nicht immer schon auch Spannungen innerhalb der Frauenbewegung gegeben hätte. Tatsächlich haben diese dazu geführt, dass sie aktiv geblieben ist.

Eines der ersten Themen, die kontrovers diskutiert wurden, war die Frage, inwieweit sexuelle Identität und Kaste innerhalb der Bewegung eine Rolle spielen sollten. Die „Mainstream-FeministInnen“ waren gezwungen anzuerkennen, dass sie diesen Themen zuvor keinerlei Beachtung geschenkt hatten. Aber diese Unterschiede führten nicht dazu, dass sich unüberwindbare Mauern gebildet hätten und die Bewegung auseinanderfiel.

Während heute in vielen Ländern von einem „Post-Feminismus“ oder Rückschlägen für feministische Bewegungen die Rede ist, schließen sich in Indien viele junge Frauen der Welt des Feminismus an. Zahlreiche neue Foren im Internet haben eine neue Energie entfacht. Themen wie sexuelles Vergnügen und Lust werden nicht länger tabuisiert.

Gegen Widerstände. Dies sorgt allerdings teilweise für aggressive Reaktionen. Rechte Kreise, die sich als Bewahrer der öffentlichen Moral sehen, hetzen gegen die von ihnen verachteten „modernen“ Frauen. Feministinnen reagieren darauf auf eine Art und Weise, die diese Männer am meisten aufbringt: Sie machen sich darüber lustig. Beispielsweise schickten sie in einer organisierten Massenaktion pinke Unterwäsche an die Rechten und amüsierten sich köstlich bei der Vorstellung, wie diese die Päckchen öffneten. Die Erben von Mukta und Tarabai sind noch immer unterwegs. Nur ihre Methoden sind heute etwas anders.

Aus dem Englischen von Tobias Lambert.

Urvashi Butalia ist Verlegerin und Schriftstellerin in Indien. 2016 schrieb sie die Südlink-Kolumne „Feministisches Indien“, sie wird heuer mit der Goethe-Medaille ausgezeichnet.

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