Reise in den Ausnahmezustand

Von Redaktion · · 2008/02

Ende November ging in der pakistanischen Millionenstadt Lahore ein großes Weltmusik-Festival über die Bühne. Auch ein bulgarisches Orkestar aus Österreich war dabei. Ein Bericht vor Ort von Sabina Schebrak.

Die alte Frau im Rollstuhl sitzt verwirrt mitten unter unzähligen Gepäckstücken und einem riesigen Kontrabass, einfach vergessen im Gewirr der Abflughalle am Flughafen Islamabad. Wir machen soeben unsere ersten unsicheren Schritte auf pakistanischem Boden: das bulgarisch-österreichische Martin Lubenov Orkestar und eine französische Band. Unser Ziel ist das World Performing Arts Festival, das vom 22. November bis zum 2. Dezember in Lahore stattfindet.
Familien, FreundInnen, praktisch unser gesamtes Umfeld schlug die Hände über dem Kopf zusammen, als wir verkündeten, trotz des soeben verhängten Ausnahmezustandes die Einladung zur Teilnahme am größten Bühnenfestival Südasiens anzunehmen und eine Woche im November nach Pakistan zu fahren.
Beim Anflug leuchtet noch kurz der morgenrote K2, der zweithöchste Berg der Welt, aus dem undurchdringlichen Dunst über der Erde. Die Luft beim Verlassen des Flughafengebäudes ist im wahrsten Sinne des Wortes atemberaubend – schwül, schwer und schmutzig. Zwischen uns und der Welt liegt ein Nebelschleier, ein grauer Staubfilm auf Feldern, Pflanzen, Gebäuden, ein seltsamer Geruch nach Rauch und Abgasen in der Luft, der uns bis zu unserer Abreise nicht mehr loslassen wird.

Auf den ersten Blick ist Pakistans alte Kulturmetropole Lahore, die nur 20 Minuten von der indischen Grenze gelegene alte Hauptstadt des Punjab, ein 9-Millionen-Moloch, der in Schmutz und Abgasen zu versinken droht. Der aberwitzige Verkehr ist eine Schlacht um das Recht des Stärkeren, die nach undurchsichtigen Regeln abläuft – Rikschas und vorsintflutliche Busse blasen schwarze Wolken in die Luft, bunt bemalte hoch aufgebaute Laster drängen sich neben Radfahrern, Mopeds, Eselskarren und modernen PKWs. Frauen in bunten Tüchern sitzen im Damensitz auf den Mopeds hinter ihren Männern, manchmal auch noch mit dem Baby im Arm. Auf grau verstaubten Verkehrsinseln und den Grünstreifen zwischen den Fahrspuren liegen Menschen im Dreck und schlafen oder warten auf Arbeit wie die leuchtend gelb gekleideten Trommler. Wunderschöne alte Paläste aus den verschiedensten Architekturepochen gammeln vor sich hin, während rundherum der Verkehr tost. Jeder Gedanke an eine ökologisch ausgewogene Zukunft des Planeten führt sich hier von selbst ad absurdum.
Nach jeder dieser Höllenfahrten durch die Stadt erscheint uns das Festivalzentrum wie eine Oase der Schönheit und des Friedens. Der Alhamra Cultural Complex liegt neben der National Cricket Academy, dem Ghaddaffi Stadium und riesigen Wedding Halls – bombastisch geschmückte Säle für Hochzeiten betuchter Pakistani – in einem relativ großzügig angelegten neueren Stadtteil. Der große ovale Backsteinbau, in den man nur nach einem dreifachen Security Check vorgelassen wird, ist mit unzähligen bunten Fähnchen und leuchtenden Stoff- und Lichtskulpturen geschmückt und verwandelt sich jeden Abend in eine Märchenlandschaft, die von Stelzengehern, bunt kostümierten Folkloregruppen, KünstlerInnen aus aller Herren Länder und dem neugierigen Publikum bevölkert wird.

Das World Performing Arts Festival, das größte Festival seiner Art in Südasien, gibt es seit 1992 in den unterschiedlichsten Formen. Organisiert wird die Großveranstaltung, die als Puppentheaterfestival begann und mittlerweile jedes Jahr an die 800 BühnenkünstlerInnen aller Sparten und aus aller Welt für zehn Tage nach Pakistan holt, vom Rafi Peer Theater Workshop. Diese bedeutendste Kulturorganisation des Subkontinents wird von der Familie Peerzada geleitet, den Söhnen und Töchtern des großen indischen Theaterreformers, Schauspielers und Regisseurs Rafi Peer, der 25 Jahre lang bei Max Reinhardt in Berlin gearbeitet hatte, das moderne Theater nach Indien brachte und das Nationaltheater im Bombay gründete.
„Unser Hauptziel ist die Förderung kultureller Vielfalt in einer sich rasch globalisierenden Welt. Mit unserer Arbeit bauen wir Brücken, nicht nur zwischen Nationen und Kulturen, sondern auch zwischen den verschiedensten Kunstrichtungen und Stilen.“ Das in dieser Hinsicht nicht verwöhnte pakistanische Publikum bekomme Gelegenheit, internationale Musik-, Tanz- und Theaterproduktionen live zu erleben. „Auch der Austausch unter den Künstlerinnen und Künstlern aus den verschiedensten Erdteilen ist uns ein großes Anliegen“, erzählt Faizaan Peerzada, der Präsident des Rafi Peer Theater Workshop.

Peerzada und seine Geschwister sind stolz und erleichtert, dass trotz aller politischer und finanzieller Turbulenzen der letzten Zeit das Festival nicht abgesagt wurde und einmal mehr die internationalen Gäste erleben können, dass es auch ein kulturell aufgeschlossenes Pakistan abseits der Schreckensberichterstattung westlicher Medien gibt. „Wir haben den Militärputsch 1999 und das Erdbeben 2005 überstanden, und obwohl sich auf Grund des Ausnahmezustandes etliche internationale Künstler und auch Sponsoren zurückzogen, haben wir auch diesmal nicht aufgegeben. Festivals sind eben nicht nur für Friedenszeiten gemacht!“
Austausch findet denn auch auf allen Ebenen statt: Der bulgarische Rom Martin Lubenov erforscht mit dem Hoteldirektor, dessen Bruder seit 25 Jahren in Österreich lebt und mit Waffen handelt, die sprachlichen Gemeinsamkeiten zwischen Urdu und dem Romanes, der Sprache der Roma, die vor tausend Jahren aus dem Punjab nach Westen aufgebrochen sind. Anschließend tanzen wir alle in der Hotellobby zu Martins Musik. Am Abend steht die Band dann gemeinsam mit einem klassischen pakistanischen Sänger und zwei Gypsy-Trommlern aus dem Punjab auf der Bühne. Und bei der Late-Night-Session im Essenszelt jammen die Gypsies mit der Vokalakrobatin aus Bangladesch und dem Tabla-Spieler aus Vancouver, alles begleitet von kokett unter dem Tisch serviertem original pakistanischem Wodka.

„Seid ihr zum ersten Mal in Pakistan? Und wie gefällt es euch hier? Glaubt ihr immer noch alles, was die Medien sagen?“ Diese Fragen verfolgen uns auf Schritt und Tritt, gestellt vom Flughafenpersonal oder den zahlreichen freiwilligen StudentInnen, die beim Festival mitarbeiten – alle perfekt zwei- oder mehrsprachig, höflich und äußerst liebenswürdig. Es ist, als ob ein ganzes Land alles tun wollte, um sein schlechtes Image im Ausland auszugleichen.
Zwischendurch besorgte SMS aus Wien: „Es hat wieder Selbstmordattentate in Pakistan gegeben, geht es euch eh gut?“ Beim Rockkonzert am selben Abend – Lahore hat eine äußerst aktive Underground-Rock-Szene – füllen dreitausend begeisterte Jugendliche mit leuchtenden Handys die Arena und lassen jeden Gedanken an Extremisten und Fundamentalisten sehr weit weg erscheinen.
Die Antworten auf unsere Fragen nach den politischen Verhältnissen machen die Dinge auch nicht wirklich klarer. Musharraf sei nicht so übel, heißt es, schließlich müsse man etwas gegen den islamistischen Extremismus tun, und außerdem sei er der einzige, der nach Jahrzehnten endlich wieder etwas für die Kunst im Land tut. Und Benazir Bhutto – kurz zuvor aus dem Exil zurückgekehrt – sei hauptsächlich reich und korrupt. Natürlich sei die Verteilung des Reichtums und der Ressourcen schreiend ungerecht, natürlich herrsche am Land dunkelstes feudales Mittelalter, aber gleichzeitig wachse die Zahl der arbeitenden Frauen in den Städten. Und wer kann – aus der gebildeten Oberschicht, aus der unsere GesprächspartnerInnen großteils kommen -, geht ins Ausland, wo es mehr Chancen gibt. „Und im Übrigen habt ihr in Europa Jahrhunderte gebraucht, um vom Mittelalter in die heutige Demokratie zu kommen – also gesteht uns gefälligst unseren eigenen Rhythmus zu.“ Mit Sätzen dieser Art enden viele der Gespräche um Politik, Demokratie und Menschenrechte.
Bei der Abreise im Morgengrauen blockiert eine Kuhherde die Straße zum Flughafen. Ich muss an den Satz eines österreichischen Journalisten denken, der viel in Indien und Pakistan unterwegs ist: „Mich fasziniert hier, dass man in all dem Dreck und Gewühle immer wieder leuchtende Perlen findet.“ Die Luft ist immer noch schmutzig, die Straße eine Aneinanderreihung von Schlaglöchern, und wir fahren um ein paar Fragen, aber auch um ein paar Perlen reicher nach Hause.

www.cultureworks.at

Sabina Schebrak ist Kulturmanagerin und betreibt in Wien die Agentur CultureWorks, die schwerpunktmäßig mit World&Jazz-MusikerInnen aus dem Balkan, dem Mittelmeerraum und Lateinamerika arbeitet.

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