Schwestern im Erdulden

Von Brigitte Voykowitsch · · 2004/12

Die muslimischen Frauen in Indien leben unter derselben patriarchalen Kontrolle und sozialen Benachteiligung wie die Hinduistinnen. Für die hindu-nationalistischen Männer sind sie jedoch trotzdem nichts weiter als ungebildete Gebärmaschinen.

Hinduistische Panikmache: „Wir zwei, unsere zwei – wir fünf, unsere 25“: Dieser Slogan gehört zum fixen Repertoire der Sangh Parivar, der „Familie“ von hindu-nationalistischen Organisationen, zu der auch die einstige Regierungs- und nunmehrige Oppositionspartei BJP (Bharatiya Janata Party, Indische Volkspartei) zählt. „Wir zwei, unsere zwei“ steht für die angeblich typische Hindu-Familie mit Vater, Mutter und zwei Kindern. „Wir fünf, unsere 25“ soll die Lebensrealität der Muslime verdeutlichen. Ein typischer muslimischer Mann würde demnach vier Frauen ehelichen und mit diesen insgesamt 25 Kinder zeugen. Die unausweichliche Folge, wie Mitglieder der Sangh Parivar sie einem Gespenst gleich an die Wand malen: Der Tag sei absehbar, an dem die Hindus (derzeit 82,5 Prozent der mehr als eine Milliarde Inder) in die Minderheit geraten und die Muslime (derzeit 12,5 Prozent) die Mehrheit stellen würden.
Polygamie, die angebliche Verweigerung von Verhütung und der daraus resultierende Kinderreichtum gehören zu den zentralen hinduistischen Stereotypen für die Muslime in Indien. In den durch die Sangh Parivar in den letzten 15 Jahren stark angeheizten Debatten gehe es in erster Linie um eine negative Bewertung des Islam und der Muslime, betonen auch Ritu Menon, Mitbegründerin des feministischen Verlags Kali for Women in Neu Delhi, und Zoya Hasan, Professorin für Politologie an der Jawaharlal Nehru Universität in Neu Delhi. Selbst Wissenschaftler würden in der Regel eine Soziologie der Religion statt eine Soziologie der muslimischen Gesellschaft betreiben. Die niedrige Stellung der muslimischen Frau wird dabei pauschal auf das muslimische Recht zurückgeführt, erklären Menon und Hasan.

Die muslimische Frau „gehört zu den ärmsten, ob sie im urbanen oder ruralen Raum lebt, und ist in der Regel Analphabetin. Wenn sie überhaupt die Schule besucht hat, dann ist sie selten über die Grundschule hinausgekommen. Im Alter von 15 Jahren ist sie bereits verheiratet, bis zu ihrem 20. Lebensjahr hat sie drei Kinder auf die Welt gebracht. Den Großteil ihres Lebens wird sie unter schlechter Gesundheit leiden“. Mangels Bildung und aufgrund beschränkter Mobilität wird sie ihr Leben in Abhängigkeit von ihrem Mann verbringen, der in der Regel selbst arm und benachteiligt ist. Gewalt und patriarchale Kontrolle bestimmen ihr Leben: So beschreiben Menon und Hasan die Lebensrealität der durchschnittlichen Muslimin in Indien.
Das in diesem Herbst von den beiden Wissenschaftlerinnen veröffentlichte Buch „Unequal Citizens: Muslim Women in India“ (New Delhi, Oxford University Press 2004) ist die bislang umfassendste Studie zur Lage der Musliminnen in Indien. Insgesamt 10.000 Frauen – 8.000 Musliminnen und 2.000 Hindu-Frauen – in zwölf Bundesstaaten haben die Forscherinnen befragt. Das Ergebnis belegt: Was Ehe, Autonomie, Mobilität und Gewalt in der Familie betrifft, sind die Unterschiede zwischen muslimischen und Hindu-Frauen „so insignifikant, dass sie auf eine Ähnlichkeit kultureller Praktiken und die Allgegenwart patriarchaler Kontrolle verweisen“. Lediglich zehn Prozent der Frauen treffen irgendeine kleinere oder größere Entscheidung alleine. Unter den 30 Prozent, die Entscheidungen gemeinsam mit dem Ehemann treffen, befinden sich aber mehr Musliminnen als Hindu-Frauen.

Unbestritten ist der geringere Bildungsstand der Musliminnen. 59 Prozent haben nie eine Schule besucht, nur zehn Prozent haben die Grundschule abgeschlossen. Dies ist der Studie zufolge jedoch auf die insgesamt schlechtere sozioökonomische Lage der MuslimInnen zurückzuführen, die zu den ärmsten Bevölkerungsgruppen im Land gehören. Dabei sind allerdings signifikante regionale Unterschiede zu bemerken. Im Süden und teils auch im Westen des Landes genießen MuslimInnen eine deutlich bessere Stellung und sind aufgrund historischer Entwicklungen auch besser integriert. „Die Vorurteile und Bigotterie, die im Norden und Westen blühen, finden hier kein Echo“, schreiben Menon und Hasan. In Kerala etwa haben die staatliche Förderung der Minderheiten sowie die saisonale Migration in die Golfstaaten die Armut der MuslimInnen verringert und zugleich ihr Bildungsniveau erhöht. Im nördlichen Bundesstaat Uttar Pradesh leiden die MuslimInnen dagegen bis heute an den Folgen von 1947, als der Subkontinent mit der Erlangung der Unabhängigkeit zugleich in das mehrheitlich hinduistische Indien und das eigens für die Muslime geschaffene Pakistan geteilt wurde.
Ein Großteil der muslimischen Mittel- und Oberschicht aus dem Norden wanderte nach Pakistan aus. Die in Indien verbliebenen Muslime verloren damit wichtige Netzwerke und sind bis heute in Regierung und Staatsbürokratie unterrepräsentiert. Vor allem aber haben sie seit 1947 und mehr noch seit dem Aufstieg der Sangh Parivar seit 1990 unter ständigen Vorwürfen eines mangelnden Nationalismus zu leiden. „Sollen sie doch nach Pakistan gehen“, lautet ein Slogan radikaler Hindus. Inwieweit haben sich die indischen Muslime infolge des politischen Klimas abgesondert? Inwieweit haben sie damit selbst ihre Rückständigkeit zu verantworten? Inwiefern hat der indische Staat sie im Stich gelassen? Diese Fragen werden seit einigen Jahren unter gebildeten, liberalen MuslimInnen heftig diskutiert.

In den letzten Jahren hat sich zwar durch ihr Engagement im Tertiär- und Servicesektor zwar im Norden wieder eine neue muslimische Mittelschicht heraus gebildet. Die Mehrheit der muslimischen Männer aber sind selbständig im Kleingewerbe oder Kleinhandel tätig. Ihr Bildungsniveau liegt im Schnitt unter jenem der Hindus, was eine wichtige Erklärung für die Einschränkungen beim Schulbesuch muslimischer Mädchen liefert. Zu viel Bildung würde ihre Heiratschancen nur verringern, so die landläufige Meinung.
Reines Vorurteil ist hingegen die große Kinderzahl der MuslimInnen. Arme muslimische Familien haben der Studie von Menon/Hasan zufolge im Schnitt 3,5 Kinder, arme Hindu-Frauen 2,8. Was die Polygamie betrifft, so genügt ein Blick auf den letzten Zensus von 1991. Demnach kamen bei den Muslimen 930 Frauen auf jeweils 1.000 Männer, was die Vier-Frauen-Theorie eindeutig widerlegt.

Sowohl bei den Hindu-Frauen wie auch bei den Musliminnen liegt dagegen das durchschnittliche Heiratsalter mit 15,6 Jahren deutlich unter dem rechtlichen Mindestalter von 18 Jahren. In den ländlichen Regionen des Nordens beträgt es gar nur 13,9.
Die 1950 verabschiedete indische Verfassung war nach Ansicht von Menon und Hasan ein Meilenstein für die Frauen, wird darin doch jegliche Diskriminierung aufgrund des Geschlechts verboten. Zahlreiche Gesetze sind seither im Interesse der Frauen verabschiedet worden. Im sozialen, ökonomischen und politischen Leben aber ergibt sich „ein Bild schreiender Ungleichheit“ für alle Frauen und – infolge der Gesamtsituation der Muslime – insbesondere bei den muslimischen Frauen. Nicht die Religion steht vorrangig zur Debatte, betonen Menon und Hasan. Zu hinterfragen sind vielmehr die Diskurse über Entwicklung und Empowerment sowie die Politik gegenüber den Minderheiten im demokratischen, säkularen Indien.

Brigitte Voykowitsch ist freie Journalistin mit dem Arbeitsschwerpunkt Süd- und Südostasien.

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