„So Gott will, ändert sich was“

Von Klaus Hart · · 2003/04

„Arm, aber glücklich“ – lautet eines der unzähligen Klischees über BrasilianerInnen, deren überschäumende Lebensfreude einfach unschlagbar sei. Mit dem neuen Staatschef „Lula“ da Silva hofften gerade die Ärmsten auf eine bessere Zukunft, heißt es in den Medien. Herrscht in den Favelas tatsächlich Aufbruchstimmung?

Nichts wird besser – die Reichen Brasiliens lassen nie zu, dass Lula irgendwas ändert, uns hier rausholt“, sagt Eloisa. Mit ihren vier Kindern, ihrer Bretterhütte an der Peripherie von São Paulo, der reichsten Stadt Südamerikas mit über zweitausend Slums. Wenn ein Tropengewitter runtergeht, und das passiert oft, laufen Kot, Urin und andere Abwässer des Elendsviertels in ihre Hütte und die der Nachbarn. Wenn sich die beiden rivalisierenden Gangstermilizen der Region ein Feuergefecht liefern, verstecken sich die Kinder unterm Bett, gehen bei der ersten MP-Salve ebenso routiniert wie Eloisa und ihr jetziger Lebensgefährte in die Horizontale. „Andauernd machen die Drogenbanditen hier Ausgangssperre – dann dürfen wir sogar bei Affenhitze nicht mal den Kopf aus der Tür stecken – oder wir sind geliefert. Die legen jeden um, der sich nicht dran hält!“
Über 800 Mordopfer sind monatlich in den Favelas São Paulos zu beklagen, weit über vierzigtausend sind es jährlich in ganz Brasilien.
Aber jetzt ist Lula doch auch Oberbefehlshaber der Streitkräfte, könnte seine Soldaten los schicken, euch von dem Terror der neofeudalen Milizen befreien? Eloisa bleibt skeptisch: „Das schafft Lula nicht – die Verbrechersyndikate haben mehr Macht, und die Reichen auf ihrer Seite. Alle haben Angst vor denen, auch Lulas Arbeiterpartei.“ Bei ihr hat Eloisa sogar ein paar Jahre aktiv mitgemacht, auf Lula lässt sie nichts kommen. „Der ist in Ordnung, einer von uns, der weiß, was Hunger ist. Aber was kann er schon machen? Eine richtige Revolution müsste es geben, aber dazu sind die Brasilianer viel zu träge.“
„Die Leute haben gedacht, Lula werde in den Präsidentenpalast einziehen und sofort Medikamente und Nahrungsmittel verteilen lassen“, sagt Eloisas Nachbarin Maria. Doch schon im Jänner wurden Nahrungsmittel, Bus und Vorortbahn sprunghaft teurer, und Lula unternahm nichts. Sozialprogramme wurden drastisch gekürzt. Zwar soll der erbärmliche Mindestlohn, den kaum ein Favelado bekommt, umgerechnet nur etwa sechzig, siebzig Euro im Monat, angehoben werden, aber deutlich unterhalb der Teuerungsrate. „Jetzt, wo er im Palast ist, hat er uns wohl vergessen“, meinen Maria und die Umstehenden. Aber ein wenig Hoffnung haben sie noch. Eloisa entschuldigt alles, was sie an Lula kritisieren. Dass die Drogenbosse und ihre schwerbewaffneten Milizen sich in den Favelas wie Herrscher über Leben und Tod aufführen, ist für sie unabänderlich, wie ein Naturgesetz. „Wir bleiben denen ausgeliefert für immer.“ Manche minderjährigen Kindersoldaten, bekannt und gefürchtet, hätten bereits bis zu vierzig Menschen getötet.

Maria, ihre zwei Schwestern und ein Bruder sind aus einer Favela im über 2.600 Kilometer entfernten Recife hierher gezogen, wie Millionen „Nordestinos“, BewohnerInnen des Nordostens des Landes. Sie teilen sich in der Hütte einen einzigen Raum mit den beiden kleinen Kindern. Väter? Nicht präsent. Alle machen Aushilfsarbeiten: als Handlanger, Putzfrau, Wäscherin oder Straßenverkäufer. Eine Schwester prostituiert sich zwei-, dreimal im Monat, schläft mit verheirateten Japanern der Mittelschicht, für ein paar Real. „Da komme ich wenigstens mal raus hier, die nehmen mich mit in ein Stundenhotel, das ist wie im Paradies, mit Abendessen.“ Der „Nebenjob“ bessert die Haushaltskasse der Familie auf. „Wenn ich jeden Tag das Essen für mich und die Kinder auftreibe, bin ich froh, mehr will ich eigentlich gar nicht.“ Träume, große Hoffnungen hat sie nicht, aber so viel Fatalismus in der Stimme, dass es weh tut, wie bei anderen Favela-Gesprächen auch.
Einmal im Jahr besucht Maria die Eltern, die anderen fünf Geschwister an der Peripherie von Recife. Immer ist sie entsetzt: „Wie könnt ihr so leben, die Lehmhütte steht viel zu nahe am Kloakefluss, das ist gefährlich!“ Die anderen kontern: „Wo sollen wir denn sonst hin?“ Im archaischen Nordosten hofft erst gar keiner auf Politiker, Gouverneure, man wählt den, der T-Shirts, Nahrungspakete verschenkt.
„Se Deus quiser – so Gott will, ändert sich was“, sagen die meisten Favelados, sie erscheinen tief religiös. „Wir leben hier so, weil Gott es so wollte.“
Dies ist nicht die Linie der katholischen Kirche, befreiungstheologisch orientiert, beständig darauf aus, die Verelendeten zu mobilisieren, aus ihrer Apathie und Lethargie zu holen. Doch das gelingt nur punktuell, zumal in den Favelas Sekten dominieren. „Du wirst in so einer Hütte geboren, kaum was zu essen, tagaus, tagein Bohnen und Reis. Du siehst, dass deine Eltern nicht vorankommen, nur Schläge einstecken, irgendwann aufgeben, müde werden. Und da wirst du auch pessimistisch, machst dir keine Hoffnungen mehr“, meint Maria. Ihre Schwester, fünfzehn, inzwischen mit einem Baby, von wem, weiß sie nicht, stimmt zu: „Da wurde ein Berufskurs gratis angeboten, doch ich hatte das Geld für den Bus nicht, musste dorthin über eine Stunde laufen, bei Hitze. Mittendrin bin ich vor Erschöpfung ohnmächtig geworden, hatte ja nichts im Bauch. Ich habe so geheult deswegen, das wäre eine Chance gewesen, aber ich habe aufgegeben.“

So viele Barrieren, die lethargisch, apathisch machen. Marias Eltern sind Analphabeten, ihre Geschwister in Recife können kaum lesen und schreiben, überfordert mit simplen Gebrauchsanweisungen, Einnahmevorschriften auf Medikamenten oder gar Verhütungsmitteln. Sie könnten mit anderen Favelados rebellieren, zu den Vierteln der Reichen, zum Gouverneurspalast ziehen, auf ihre Rechte pochen, damit sich was bessert, die perverse Einkommensverteilung aufhört. Brasilien ist schließlich ein reiches Land, unter den zwölf führenden Wirtschaftsnationen. „Wenn du Hunger hast, fehlt dir der Antrieb, aus der Hütte zu gehen. Wegen dem Elend protestiert hier in Brasilien keiner“, meint Roberto, ein Jugendfreund Marias, der einst mit ihr einen kleinen Alphabetisierungskurs aufzog, als „Roter“ verschrien war, vom eigenen Vater deshalb immer wieder verprügelt wurde. „Die im Slum hier denken nicht politisch. Wut oder Hass auf die Reichen – das kennen die Favelados nicht. Sie denken, das alles sei normal.“ Manche hoffen, träumen, dass es vielleicht den Kindern besser gehen wird, aber dafür aktiv werden, etwa eine bessere Schule für sie suchen, das gibt es kaum. Manche Kinder, Jugendliche, beobachtet Roberto, machen bei den Gangstermilizen mit, verdienen richtig gut Geld, haben Prestige in der Favela. „Alt werden die nicht, spätestens mit fünfundzwanzig liegen sie irgendwo mit zersiebtem Gehirn.“ Zwanzig Millionen illegaler Waffen sind in Brasilien im Umlauf.

Aber helfen sich wenigstens die Ärmsten gegenseitig, damit das Leben in der Favela erträglicher wird? „Alle schön gemeinsam, so ist das leider nicht oder nur ganz, ganz selten“, sagen die Favelados. „Cada um por si“ – jeder für sich, lautet die Verhaltensregel. „Jeder hat so wenig“, meint eine Frau an Fortalezas Peripherie. „Und jeder hat Angst, das Wenige auch noch an die zu verlieren, die gar nichts haben. Solidarität gibt es kaum.“ Auch sie verneint Zukunftshoffnungen auf irgendeine Besserung. Egal wer gerade an der Regierung ist, so ihre Erfahrung, „nichts bessert sich“.
Doch, manches schon. Weil es in den meisten öffentlichen Schulen Essen gratis gibt, gehen mehr Kinder gerne dorthin, lernen wenigstens etwas. Manchmal wird hier und dort ein Hilfsprogramm der Regierung gestartet, werden Lebensmittel verteilt, bekommen Familien eine kleine Hilfe von umgerechnet etwa fünfzehn Euro monatlich. Ein Almosen. Wer keinen Ausweis hat oder keine Geburtsurkunde, und das sind sehr viele, geht leer aus. „Arm, aber glücklich“ – EuropäerInnen verstehen nicht, warum Favelados dennoch oft so fröhlich wirken – fröhlicher als ÖsterreicherInnen, Deutsche. „Wir sind in der Lage, über unser Unglück wilde Witze zu reißen. Schwarzer Humor, schwärzer geht es nicht.“

Klaus Hart ist freier Korrespondent und Buchautor. Er arbeitet in Săo Paulo für österreichische und deutsche Medien.

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