Standortvorteil Multikultur

Von Sven Hansen · · 2000/10

Bei den Olympischen Spielen in Sydney hat sich Australien der Weltöffentlichkeit als erfolgreiches multikulturelles Land präsentiert – trotz rassistischer Geschichte, anhaltender Benachteiligung der Aborigines und fortwährenden Identitätsproblemen.

Das bestgehütete Geheimnis bis zur Eröffnung der Olympischen Spiele in Sydney war der Name der Person, die das Olympische Feuer im Stadion entzünden sollte. Als schließlich die Sprinterin Cathy Freeman als letzte Fackelläuferin die Treppen hinaufstieg und in einer an Science-Fiction erinnernden Inszenierung das Feuer entfachte, war der Jubel groß. Die Verantwortlichen hatten mit der Wahl der Aborigine-Sportlerin ein Signal gesetzt und damit zumindest symbolisch die offizielle Politik hinter sich gelassen. Denn Australiens konservativer Premierminister John Howard weigert sich bis heute, sich bei den UreinwohnerInnen offiziell für das ihnen zugefügte Unrecht zu entschuldigen.

Bei der Bewerbung um die Spiele spielte der multikulturelle Charakter Australiens und Sydneys eine wichtige Rolle. Dennoch sind auch in Australien Anspruch und Wirklichkeit zweierlei. So preist zwar der in der Hauptstadt Canberra stationierte schwarze US-Diplomat Don Washington die Erfolge der australischen Wirtschaftspolitik. Doch die Praxis des Multikulturalismus überzeugt ihn nicht. „Das soll ein multikulturelles Land sein? Vielleicht, wenn man darunter das Zusammenleben von Briten, Deutschen und Griechen versteht. Aber hier gibt es so gut wie immer noch keine Asiaten in der Regierung oder Armee und nicht einmal bei den neuen Internetfirmen.“

Des Hogan von der Menschenrechtsorganisation amnesty international kritisiert die inhumane monatelange Inhaftierung von AsylwerberInnen in abgelegenen Camps.

„Ich habe das Wort Multikulturalismus nie gemocht“, sagt ausgerechnet der Vater der australischen Multikulturalismuspolitik, Jerzy Zubrzycki. Der 80-jährige polnischstämmige Soziologe war ab 1965 maßgeblich daran beteiligt, die rassistische „White Australia“-Politik durch den Multikulturalismus zu ersetzen. „Der Multikulturalismus ist für uns alle gut.“

Australiens ProtagonistInnen des Multikulturalismus sehen das Land mit seinem hohen Anteil an EinwandererInnen aus aller Welt als bestens positioniert für das Zeitalter der Globalisierung. „Unser größter Vorteil ist unsere kulturelle Vielfalt,“ meint der Ökonom Jock Collins von der Technischen Unversität Sydney. Manche Konzerne wissen dies inzwischen zu nutzen und haben ihr Hauptquartier für die Asien-Pazifik-Region nach Sydney verlegt.

„Wir haben mehr Migranten als jedes andere Land“, sagt Collins. Insgesamt sind 42 Prozent der 19 Millionen AustralierInnen Einwanderer aus erster oder zweiter Generation.

1975, zwei Jahre nach dem offiziellen Ende der diskriminierenden Einwanderungspolitik, die jahrzehntelang nur Weiße ins Land ließ und deren Assimilation im anglokeltischen Mainstream anstrebte, bekannten sich die Führer der beiden großen Parteien zum Multikulturalismus. Der ist seitdem erklärte Politik, unabhängig davon, ob gerade die Liberal oder die Labour Party regiert. Seither hat die Einwanderung aus Asien stark zugenommen, zunächst aus Vietnam, dann aus Hongkong und China.

„Der dramatische Wandel der ethnischen und kulturellen Zusammensetzung Australiens, der in den letzten eineinhalb Generationen stattfand, entspricht dem Wandel Kanadas von drei und der USA von über sechs Generationen“, stellt der von der Regierung eingesetzte Nationale Rat für Multikultur fest, dem auch Zubrzycki angehört.

Inzwischen wohnt in Australiens Städten ein buntes Bevölkerungsgemisch. Der Gang durch ein Kneipenviertel ist eine kulinarische Weltreise. Es gibt eine einzigartige Vielfalt, die das Land nicht nur vom britischen Essen erlöst hat, sondern selbst immer wieder neue Kreationen hervorbringt. Es kann passieren, dass die Speisekarte nur eines Restaurants schwäbische Spätzle neben griechischem Salat, japanischer Miso-Suppe, indischem Curry, indonesischem Gado-Gado, italienischen Spaghetti, thailändischen Nudeln oder vietnamesischen Reisgerichten zu australischem Wein oder Bier bietet – und alles in hoher Qualität.

Laut Umfragen unterstützen mindestens zwei Drittel der Bevölkerung den Multikulturalismus. Doch kaum jemand ist für eine Erhöhung der jährlichen Zuwanderungsrate von rund 80.000 Personen, wozu auch Asylsuchende und humanitäre Fälle zählen. Nicht nur sehen bereits etablierte EinwandererInnen oft auf Neuankömmlinge herab, auch unter den Einwandernden sind Ressentiments gegen MigrantInnen aus anderen Ländern nicht unbekannt.

Der schnelle Wandel der Gesellschaft kennt auch Rückschläge wie die Wahlerfolge der rassistischen One Nation Partei, die bei den Parlamentswahlen 1998 sogar eine Million Stimmen bekam. Die Partei fordert ein Ende der Zuwanderung und eine Rückbesinnung auf das britische Erbe. Zwar ist One Nation inzwischen an der Unfähigkeit der eigenen Führung zerbrochen, doch das Potenzial der Partei ist noch vorhanden.

Für One Nation ist Multikulturalismus der Sündenbock, was Zubrzyckis Bedenken gegen den Begriff nur verstärkt hat. „Wir müssen uns überlegen, ob der Ausdruck nicht eine Abschreckung für die Akzeptanz einer Ideologie ist, die versucht, Gerechtigkeit, Zivilität und Würde für alle Australier zu erreichen, unabhängig von ihrem ethnischen Hintergrund“, meint der Soziologe.

Australier bezeichnen sich lieber als kosmopolitisch, glaubt der bekannte Sozialforscher Hugh Mackay: „Das klingt aufregend, als hätten wir etwas erreicht, und nicht so, als sei uns etwas auferlegt worden.“

Als der Rat für Multikultur von der Regierung, deren konservativer Premier John Howard das Wort „Multikulturalismus“ selbst nur ungern in den Mund nimmt, zur Überprüfung der Politik aufgefordert wurde, sollte er auch untersuchen, ob der Begriff noch angemessen sei. Der Rat konnte kein besseres Wort finden, ergänzte es aber um den Zusatz „australisch“. Das wurde offizielle Politik.

Damit wird betont, dass der Multikulturalismus kein beliebiges Konzept ist, sondern ein klares Bekenntnis zur australischen Nation und ihren Grundwerten Demokratie, Rechtsstaat und Marktwirtschaft beinhaltet – einschließlich der Nationalsprache Englisch. Deren Beherrschung wird als wichtig angesehen, damit alle BürgerInnen zur Entwicklung des Landes beitragen können. Zugleich sollen auch die Muttersprachen der EinwandererInnen gefördert werden, damit Australiens internationale Beziehungen gestärkt werden.

Das Multikulturalismus-Konzept sieht vor, dass die EinwandererInnen ihr kulturelles Erbe nicht nur pflegen können. Es soll sogar gefördert werden. Dabei sollen alle – MigrantInnen wie gebürtiger AustralierInnen – selbst entscheiden können, was sie behalten und was sie von anderen annehmen.

Multikulturalismus wird als Anpassung in beide Richtungen und von beiden Seiten gesehen. Assimilation wird nicht angestrebt, sondern vielmehr Einheit in fortgesetzter Vielfalt, die als produktiver und vorteilhafte für alle angesehen wird.

Das ist die Theorie. Die Praxis ist nicht so weit. „Viele Einwanderer können ihr Potenzial noch nicht ausschöpfen. Sie werden noch immer für ihr kulturelles Kapital mehr bestraft als belohnt“, sagt der Ökonom Collins. Er nennt das Beispiel britischer und arabischer Ingenieure, die an derselben Unversität in Großbritannien ausgebildet wurden, bevor sie nach Australien migrierten. Die Briten wurden als Ingenieure angestellt, die Araber mussten sich als Taxifahrer durchschlagen.

Für den Politologen Robert Manne aus Melbourne ist Australiens Gesellschaft zweigeteilt. „Ein Teil will, dass wir zur Republik werden, und ist an Multikulturalismus und Versöhnung mit den Aborigines interessiert. Der andere Teil will an der britischen Queen als Staatsoberhaupt wie an einem anglokeltischen Australien festhalten.“ Der erste Teil lebe vor allem in den Großstädten, der zweite Teil eher auf dem Land. „Trotzdem könnte sich in Australien kein Politiker einen Slogan wie ,Kinder statt Inder‘ leisten“, meint Manne: „Wer hier Menschen nach ethnischen Kriterien auswählen wollte, hätte verspielt. Die Herkunft darf offiziell keine Rolle spielen.“

„Im Verhältnis zu den Aborigines haben die Australier ihre eigene Geschichte wie einen Schock erlebt“, meint Manne. Erst kürzlich setzte sich die Erkenntnis durch, dass Australien nicht als unbewohnter Kontinent besiedelt worden ist, sondern den Aborigines gewaltsam gestohlen wurde. Mit dem Bekenntnis zum Multikulturalismus wurde zunehmend auch das Verhältnis zu den UreinwohnerInnen hinterfragt.

„Trotz seiner vielen Widersprüche ist Multikulturalismus der beste Rahmen für eine Gesellschaft wie unsere“, meint der Ökonom Collins. „Wir haben mehr Multikulturalismus als andere, aber kennen eigentlich keine ethnische Gewalt.“ Der Politologe Manne sieht es ähnlich: „Es gibt hier keine Alternative zum Multikulturalismus.“

Sven Hansen ist Redakteur für Asien und die Pazifikregion der „Tageszeitung“, Berlin.

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