Talfahrt ohne Ende

Von Robert Poth · · 2002/02

Mit einer Umschuldung und der Abwertung des Peso will die neue Regierung Argentiniens die schwere Wirtschaftskrise überwinden. Vorerst dürfte es aber nicht aufwärts gehen, sondern weiter bergab.

Hat der Internationale Währungsfonds (IWF) Argentinien den Todesstoß versetzt – oder war es die argentinische Regierung unter Präsident Fernando de la Rúa selbst? Gemeint ist das hartnäckig verfolgte Ziel, durch strikte Budgetdisziplin das Vertrauen in die seit 1999 in einer schweren Rezession befindliche argentinische Wirtschaft und damit in die Zahlungsfähigkeit der Regierung wiederherzustellen. Die Debatte darüber wird noch länger geführt werden. Für den Harvard-Ökonomen Jeffrey Sachs, einen seiner schärfsten Kritiker, trägt der IWF diesmal allerdings keine Schuld, wie er der Washington Post erklärte: „Die Argentinier haben die Richtung vorgegeben und die Entscheidungen getroffen, aber was sie tun wollten, war einfach unmöglich“.
Das fand jedenfalls auch der IWF, der im Dezember mit seiner Weigerung, einen Kredit von 1,3 Mrd. US-Dollar freizugeben, das Schicksal Argentiniens besiegelte. Dann ging es Schlag auf Schlag. Protestaktionen der Mittelschicht, Generalstreiks der Gewerkschaften und Unruhen mit rund 30 Todesopfern zwangen de la Rúa zur Verhängung des Ausnahmezustands und schließlich zum Rücktritt. Auf drei interimistische Staatschefs innerhalb von nur zwei Wochen folgte schließlich der peronistische Politiker Eduardo Duhalde, der zum Präsidenten bis 2003 ernannt wurde.

Seine Anfang Jänner angelobte Regierung verlor keine Zeit. Sie erklärte notgedrungen ein Moratorium für einen großen Teil der auf rund 155 Mrd. US-Dollar angewachsenen Schulden des öffentlichen Sektors und kündigte an, bei den anstehenden Umschuldungsverhandlungen ein Ergebnis anzustreben, das „mit unserer Zahlungsfähigkeit“ in Einklang steht, wie ein Regierungssprecher betonte. Gleichzeitig beseitigte sie die seit zehn Jahren geltende „Convertibilidad“, die gesetzliche Parität des argentinischen Peso mit dem US-Dollar, und ersetzte sie durch ein duales System: einen festen Wechselkurs von 1,4 Peso pro US-Dollar für die meisten Handelsgeschäfte (eine Abwertung um 28,5 Prozent) und einen freien Wechselkurs für alle sonstigen Zwecke, der sich vorerst bei 1,8 Peso pro Dollar einpendelte. Analysten meinen allerdings, dass es durchaus bis 3:1 oder noch weiter abwärts gehen könnte – etwa dann, wenn die Regierung das geltende monatliche 1.000-Dollar-Limit für Kontoabhebungen lockern oder aufheben sollte. Diese Maßnahme war noch von der Regierung de la Rúa verhängt worden, um die Liquidität der Banken zu schützen und die Kapitalflucht einzudämmen.
Beide Maßnahmen werden weithin für grundsätzlich vernünftig gehalten. Es war klar, dass sich die Regierung in einer Schuldenfalle befand: Die Zinssätze der Schulden lagen weit über den Wachstumsraten des Landes. Jedes noch so geringe Budgetdefizit ließ die Schulden rascher steigen als die Fähigkeit, sie zu bedienen. Die „Risikoprämie“, der für den Erwerb von argentinischen Schuldtiteln geforderte Aufschlag auf die Rendite sicherer US-Staatsanleihen, belief sich zwischen 1996 und Ende 2000 auf durchschnittlich 6,6 Prozent, was Zinssätze von etwa zwölf Prozent bedeutet. Im Krisenjahr 2001 hätte die Regierung am privaten Kapitalmarkt, wären nicht die Internationalen Finanzinstitutionen eingesprungen, im Schnitt weit über 20 Prozent bezahlen müssen, während die Wirtschaft um drei Prozent schrumpfte! Im Dezember erreichte der Aufschlag mit knapp 55 Prozent seinen bisherigen Höchststand.

Gleichzeitig verdreifachten sich die Zinszahlungen des öffentlichen Sektors zwischen 1994 und 2000 von 3,2 Mrd. auf 9,7 Mrd. US-Dollar und wurden zum größten Ausgabenposten neben den Sozialausgaben, mit stark steigender Tendenz (siehe Grafik). Für eine expansive Fiskalpolitik blieb einfach nichts übrig – der gesamte Schuldendienst erreichte 2000 bereits 23,6 Mrd. Dollar oder mehr als acht Prozent des Bruttoinlandsprodukts.
Die gesetzlich fixierte Dollarparität des Peso wiederum hatte zwar 1991 schlagartig mit Hyperinflation und Instabilität aufgeräumt und der argentinischen Wirtschaft Wachstumsraten von mehr als zehn Prozent beschert. Sie hätte aber nach Ansicht der meisten ExpertInnen spätestens mit der Abwertung des brasilianischen Real 1999 aufgegeben werden müssen. Der Peso war demnach überbewertet, was sich im Verlust der Wettbewerbsfähigkeit der argentinischen Wirtschaft und in der seither einsetzenden Rezession ausgedrückt hätte.

So weit die Theorie. In der Praxis aber sind sowohl die Abwertung als auch das Moratorium in Argentinien mit potentiell fatalen, zumindest aber kontraproduktiven Auswirkungen verbunden, die beide auf der weitgehenden Dollarisierung der argentinischen Wirtschaft beruhen: Per Oktober lauteten mehr als 60 Prozent der Einlagen und fast 77 Prozent der Kredite auf US-Dollar bzw. andere Fremdwährungen. Beides zusammen könnte zu einem Zusammenbruch des Bankensystems führen, was in der Tat bereits befürchtet wird.
Einmal bestehen rund 36 Prozent oder 55 Mrd. US-Dollar der argentinischen Staatsschulden nicht gegenüber dem Ausland, sondern gegenüber inländischen Gläubigern; allein der Wertverlust der Forderungen der Banken dürfte sie nach Schätzungen von Analysten zwischen zwei und vier Mrd. US-Dollar kosten. Zudem werden bei der Abwertung Privatpersonen sowie Klein- und Mittelbetriebe, die in Dollar verschuldet sind, aber Pesos verdienen, auf Kosten der Banken in Schutz genommen: Für ihre Bankschulden soll bis zu einem Wert von 100.000 Dollar der alte Wechselkurs (1:1) garantiert werden. Die Investment Bank Merrill Lynch schätzt die Gesamtkosten, inklusive der übrigen zu erwartenden Insolvenzen und uneinbringlichen Kredite, auf 10 bis 12 Mrd. Dollar. Das würde einen Großteil des Eigenkapitals der Banken verschlingen.

Zur Unterstützung der Banken will die Regierung zwar auf eine Steuer auf die Exporte der Erdölindustrie in Höhe von 20 bis 25 Prozent zurückgreifen. In der Branche schätzt man die derart aufbringbaren Mittel aber auf bloß eine Mrd. US-Dollar pro Jahr. Gerade das Bankensystem mit seinen notorischen Liquiditätsproblemen und hohen Kosten zu schwächen, die beide mit für die hohen Realzinsen, das knappe Kreditangebot und die Vernachlässigung der Klein- und Mittelbetriebe in Argentinien verantwortlich sind, könnte jeden erwarteten Aufschwung torpedieren. Zwei Lösungen sind notfalls vorstellbar: Den IWF und die Weltbank um Kapital für die Banken anzugehen oder deren ausländische Muttergesellschaften zu Kapitalzuschüssen zu bewegen.
Schließlich sind auch gegenüber der erwarteten Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit mehrere Vorbehalte angebracht. Erstens ginge dieser Effekt durch eine Anpassung der internen Preise, sprich Inflation, sofort verloren, weshalb auch Preiskontrollen vorgesehen sind. Zweitens trägt der Exportsektor nur acht Prozent zum Bruttoinlandsprodukt bei, und die Weltwirtschaft befindet sich in einer Flaute. Etwa rät die Interamerikanische Entwicklungsbank (IADB) in ihrem letzten Landesbericht zu einer Politik der Importsubstitution durch Steigerung der Produktivität und Wertschöpfung im verarbeitenden Gewerbe. Und drittens liegt für die meisten ExpertInnen auf der Hand, dass ein Aufschwung mit einer Belebung des inländischen Konsums beginnen müsste.

Letzteres steht wiederum vor der Hürde einer hohen Sockelarbeitslosigkeit, ein Resultat des Modernisierungsschocks nach der Handelsliberalisierung der 90er Jahre, einer hohen sozialen Ungleichheit und der wachsenden Armut. Und die neue Regierung selbst hat durch die Einstellung des Schuldendienstes keine Chance, auch nur einen Centavo vom privaten Kapitalmarkt zu bekommen, und muss sich auf ihre ohnehin geringen Steuereinnahmen beschränken, die im Vorjahr um weitere 7,5 Prozent fielen. In ihren letzten Budgetprognosen für 2002 geht sie von einer weiteren Kontraktion der Wirtschaft um 2,6 Prozent aus; nach privaten Schätzungen wären fünf bis acht Prozent realistischer. Falsche Hoffnungen kann sie nicht wecken.

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