Tödliche Ehre

Von Brigitte Voykowitsch · · 1999/12

In Pakistan fallen jährlich Hunderte Frauen sogenannten Ehrenmorden zum Opfer, unzählige werden mißhandelt, vergewaltigt, verstümmelt, wenn ihr Verhalten dem gesellschaftlichen Moralkodex zuwiderläuft.

Am 6. April dieses Jahres wurde Samia Sarwar in der Kanzlei ihrer Anwältin im pakistanischen Lahore erschossen. Das „Vergehen“ der 27jährigen: Sie hatte die Scheidung von ihrem Mann beantragt, von dem sie sich nach Jahren der ehelichen Gewalt und des Mißbrauchs bereits getrennt hatte. Diese Trennung hatte die Familie noch hingenommen. Mit dem Antrag auf formale Auflösung der Ehe aber hatte Samia Sarwar nach Ansicht ihrer Familie deren Ehre geschändet und den Tod verdient. Der Täter, der in Begleitung von Samias Mutter in die Anwaltskanzlei gekommen war, war nach Erkenntnissen von Menschenrechtsaktivisten ein von Samias Familie eigens angeheuerter Mörder. Die staatliche Justiz aber hat auch mehr als sechs Monate nach dem Verbrechen noch nicht gehandelt. Im Fall Samia Sarwar hat es bis dato keine einzige Festnahme gegeben.

Für die in New York ansässige Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) kommt es nicht überraschend, daß eine Frau derart drastische Konsequenzen zu gewärtigen hat, weil sie ein Mindestmaß an Unabhängigkeit wollte. „In Pakistan fordert der Brauch der sogenannten Ehrenmorde Jahr für Jahr die Leben Hunderter Frauen“, heißt es im jüngsten, Mitte Oktober veröffentlichten HRW-Bericht mit dem Titel „Verbrechen oder Brauch: Gewalt gegen Frauen in Pakistan“.

Ungezählte Frauen werden demnach innerhalb der eigenen Familie Opfer von „physischer Gewalt, Vergewaltigung, Brandanschlägen, Verletzungen durch Säure und Verstümmelungen. Schätzungen zufolge erleiden 70 bis 90 Prozent aller pakistanischen Frauen Mißbrauch durch die eigenen Ehemänner“, steht in dem Bericht zu lesen, der auf dem Cover zwei der Opfer abbildet: Der 30jährigen Nusrat Parveen wurde von ihrem Gatten die Nase abgeschnitten, der 25jährigen Tasneen Bibi schütteten Angehörige des Mannes Säure ins Gesicht.

Während die Welt Pakistans politische Krise verfolgt, bleiben fünfzig Prozent der Bevölkerung in einer ganz anderen Krise gefangen“, sagte die Verfasserin des Berichts, Samya Burney, unter Verweis auf den Militärputsch, der am 12. Oktober die Anfang 1997 gewählte Regierung von Premierminister Nawaz Sharif stürzte. Knapp die Hälfte der bisher 52 Jahre Unabhängigkeit hat im mehrheitlich muslimischen Pakistan die Armee regiert. Mit der vorläufigen Machtübernahme von General Parvez Musharraf ging die jüngste Phase demokratischen Experimentierens zu Ende.

Keine der insgesamt vier gewählten Regierungen hatte in den elf Jahren seit 1988 eine volle Amtszeit überdauert. Benazir Bhutto (1988-90 und 1993-96) wurde zweimal vom Präsidenten unter dem Vorwurf von Korruption und Amtsmißbrauch entlassen, Sharif (1990-93) mußte einmal wegen ähnlicher Anschuldigungen gehen, bevor er nun von jenem Armeechef abgesetzt wurde, den zunächst er in einem eskalierenden Konflikt mit allen Institutionen des Staates zu schassen versucht hatte.

Während führende MenschenrechtsaktivistInnen, allen voran die Anwältin und Gründerin einer unabhängigen pakistanischen Menschenrechtsorganisation, Asma Jehangir, von der Armee einen Zeitplan für die baldige Rückkehr zur Demokratie einmahnen, steht zugleich fest: Elf Jahre Demokratie von 1988 bis 1999 haben für die Frauen des Landes keinerlei Verbesserung gebracht.

Benazir Bhutto hat als Premierministerin kein einziges ihrer Wahlversprechen bezüglich einer Aufhebung der für Frauen besonders diskriminierenden Gesetze eingelöst. Nawaz Sharif trat für die weitere Verankerung des islamischen Rechts der Sharia ein, „mit verheerenden Folgen für die Frauen“, wie es im Human Rights Watch-Bericht heißt.

Als eine vom pakistanischen Senat eingesetzte Untersuchungskommission Gewalt in der Familie als eine der schlimmsten Menschenrechtsverletzungen in Pakistan anprangerte, wurde dies vom Kabinett Sharif kurzerhand beiseite gewischt. Eine im August dieses Jahres im Parlament in Islamabad eingebrachte Resolution gegen Ehrenmorde, denen Ende September auch Amnesty International einen Bericht widmete, fand von den Abgeordneten der Muslimliga Sharifs praktisch keine Unterstützung.

Infolge dieser offiziellen Einstellung „werden Gewaltverbrechen gegen Frauen“, so HRW, „weiterhin fast zur Gänze straflos begangen“. Vordringliches Anliegen einer neuen Regierung in Pakistan, soferne dieser an echter Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und somit Verfassungsreformen gelegen sei, müsse daher das Thema Gewalt gegen Frauen sein, fordert Samya Burney. Dies, betont Amnesty, umso mehr, als sich Pakistan selbst mit der Ratifizierung der einschlägigen UN-Konvention zur „Eliminierung aller Formen von Diskriminierung gegen Frauen“ verpflichtet hat.

Aussagen pakistanischer Politiker geben freilich wenig Anlaß zu Hoffnung. So reagierte laut Amnesty der damalige Informationsminister auf den im März dieses Jahres vorgelegten, jüngsten Bericht der pakistanischen Menschenrechtskommission zu Gewalt gegen Frauen und Kinderarbeit mit den Worten: „Das sind Merkmale der feudalen Gesellschaft Pakistans, das fällt unter keine Regierungspolitik und hat nichts mit der Rechtslage zu tun.“

Ganz anders klingt das selbstverständlich bei Human Rights Watch. „Eine geschlechtsbedingte Diskriminierung kennzeichnet den gesamten Staatsapparat ebenso wie das Rechtssystem“, heißt es da. Opfer, die sich an die Justiz oder andere staatliche Organe wenden, hätten es mit „einer korrupten und zum Mißbrauch tendierenden Polizei, mangelhaft ausgebildeten Gerichtsmedizinern, inkompetenten Anwälten und skeptischen Richtern“ zu tun. Gerade in Fällen von Vergewaltigung und sexuellen Übergriffen aber seien hochqualifizierte Gerichtsmediziner vonnöten, zumal die einschlägigen Gesetze nicht nur unzulänglich sind, sondern allzu leicht zuungunsten der Frau ausgelegt werden können: Eine Klage wegen Vergewaltigung wird da rasch in eine wegen Ehebruchs durch die klagende Frau umgewandelt. Ebenso läuft eine Frau, die nach schweren sexuellen Übergriffen nicht bald adäquat untersucht wird, „damit wichtige Spuren von Notwehr sichergestellt werden“, Gefahr, wegen freiwilligen widerrechtlichen Geschlechtsverkehrs angeklagt zu werden.

Die allerwenigsten Frauen in Pakistan wissen freilich über diese Rechtslage wie generell über ihre – ohnedies minimalen – Rechte Bescheid. Auch 1999 beträgt die Analphabetenrate unter den Frauen noch 75 Prozent. Die Frauen sind, so Human Rights Watch, gefangen in einem verheerenden Netz von „Analphabetismus, ständigen Schwangerschaften und schlechter Gesundheit“.

Traditionelles Stammesdenken überwiegt in den an Iran und Afghanistan angrenzenden Provinzen Baluchistan und Nordwest-Grenzprovinz, wo Frauen in der Öffentlichkeit kaum sichtbar sind und ihr Lebensraum fast ausschließlich auf das Innere des Hauses beschränkt ist.

In den anderen beiden der insgesamt vier Provinzen des Landes, Sindh und Punjab, werden Frauen zwar durchaus als Arbeiterinnen auf dem Feld eingesetzt und dürfen sich auch im Dorf freier bewegen, haben auch einen etwas besseren Zugang zu medizinischer Versorgung und rudimentärer Bildung. Doch so etwas wie Freiheit mit Möglichkeit zur Wahl einer eigenen Karriere und auch des Ehepartners genießt lediglich eine winzige Elite in den großen Städten Pakistans.

Aus dieser Elite kommen Frauen wie Asma Jehangir, ihre ebenfalls als Anwältin tätige Schwester Hina Jilani und eine Reihe anderer mutiger Juristinnen und Feministinnen, die sich, oft unter Gefährdung ihres eigenen Lebens und trotz einer meist aussichtslos anmutenden Lage, für die Rechte von Frauen einsetzen. Hina Jilani vertrat Samia Sarwar, sie war Zeugin des Mordes und wurde danach selbst bedroht, während die Täter bis heute freigehen. Denn in Pakistan gilt „Gewalt gegen Frauen“, wie es im Human Rights Watch-Bericht heißt, bis heute „als akzeptierter Brauch und nicht als schweres Verbrechen“.

Die Autorin ist außenpolitische Redakteurin der Tageszeitung

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