Trügerische Verheißung

Von David Werner · · 2001/03

Was ist eigentlich mit ťGesundheit für alleŤ passiert? ťNew InternationalistŤ-Autor David Werner zeichnet das Schicksal einer Revolution nach, die noch immer stattfinden könnte.

Als die GesundheitsministerInnen der Welt 1978 die Erklärung von Alma Ata zur „Primären Gesundheitsversorgung“ verabschiedeten, herrschte einiger Optimismus: Das Ziel „Gesundheit für alle im Jahr 2000“ schien erreichbar.

Gesundheit wurde als grundlegendes Menschenrecht bekräftigt, und Primärer Gesundheitsversorgung (PHC) wurde ein weitreichendes, ja befreiendes Potential zugeschrieben. Die umfassende Definition von Gesundheit der Weltgesundheitsorganisation WHO wurde übernommen – als „vollständiges körperliches, geistiges und soziales Wohlbefinden“. Gefordert wurde allgemeiner Zugang zu grundlegender medizinischer Versorgung mit besonderer Rücksicht auf die Bedürftigsten. Und nicht nur das: Um die Ursachen schlechter Gesundheit zu überwinden, die vom Menschen selbst zu verantworten waren, wurde dazu aufgerufen, auf eine neue, gerechte Wirtschaftsordnung hinzuarbeiten.

Natürlich wurde ein derart umfassender, potentiell revolutionärer Ansatz von den Mächtigen und Privilegierten nicht gerade mit Begeisterung aufgenommen. Nicht lange nach der Erklärung von Alma Ata wurden schon erste Stimmen laut, die das Vorhaben als „unrealistisch“ bezeichneten.

1979 veröffentlichte die Johns Hopkins School of Public Health eine Studie, die darauf beharrte, „Comprehensive PHC“ sei zu allumfassend; was man bräuchte, wäre vielmehr eine selektive Liste vorrangiger Gesundheitsprobleme besonders gefährdeter Gruppen. Kostengünstige, einfach umzusetzende Technologien wurden empfohlen. Das war der Anfang vom Ende des breiten, an sozialer Gerechtigkeit orientierten Ansatzes in der primären Gesundheitsversorgung. Überall in der Dritten Welt wurde PHC ihres gesellschaftsverändernden Anspruchs entkleidet und zu einer „Selective Primary Health Care“ (SPHC) verwässert.

Die Verbindung von Gerechtigkeit und gesellschaftlicher Partizipation, auf die PHC setzt, wurde durch einige wenige Techniken ersetzt, die schnelle Lösungen versprachen. Der Traum von der Veränderung der Welt wurde auf die Lehre von der Veränderung des Verhaltens reduziert.

Sogar das Weltkinderhilfswerk UNICEF, einst ein lautstarker Proponent von umfassender PHC, machte einen Rückzieher. Konfrontiert mit Vorwürfen des US-Außenministeriums, die Organisation sei „zu politisiert“, sprang sie auf den Zug der Selective PHC auf. UNICEF förderte zwei „einfache, lebensrettende Techniken“ – Immunisierung und orale Rehydratation (ORT) – die zu den „Zwillingsmotoren“ der „Child Survival Revolution“ von UNICEF wurden (ORT bedeutet, Kindern mit Durchfall viel Flüssigkeit zu verabreichen, um einen Tod durch Dehydratation zu verhindern). Die weltweite Kampagne senkte die Kindersterblichkeit tatsächlich. Die offene Frage: Hat sich die Lebensqualität von Kindern erhöht? 1991 berichtete UNICEF, bei 35 Prozent der Todesfälle von Kindern sei Unterernährung eine der Ursachen. Bis 1996 stieg dieser Prozentsatz sprunghaft auf 55 Prozent.

Laut World Watch Institute gibt es heute mehr unterernährte Kinder als jemals zuvor. Und trotz des jüngsten Rekordwirtschaftswachstums leidet eines von fünf Kindern weltweit an Hunger. Hungrige Kinder sind nicht gesund. Ihr Geist und ihr Körper entwickeln sich nicht optimal. „Armutskrankheiten“ wie Cholera, Tuberkulose und Pest sind neuerlich aufgetreten. Was ist mit der „Gesundheit für alle“ passiert?

Der nächste bedeutende Rückschlag für PHC waren die von Weltbank und Internationalem Währungsfonds (IWF) geforderten Strukturanpassungsprogramme (SAPs). Diese „Sparmaßnahmen“ sind Ausdruck einer zunehmenden Geringschätzung der kollektiven gesellschaftlichen Verantwortung, die mit der wirtschaftlichen Globalisierung einhergeht. Die SAPs sollten sicherstellen, dass arme Länder weiter ihre gewaltigen Schulden an die Banken des Nordens bedienen. Die Weltbank und der IWF vergaben verschuldeten Ländern sogenannte „Bail-out“-Darlehen unter der Bedingung einer Umstrukturierung ihrer Wirtschaften, die Mittel für den Schuldendienst frei machen sollte.

Das bedeutete eine Kürzung der Budgets für Gesundheit und Erziehung. Gesundheitszentren für Arme und die Landbevölkerung wurden aufgrund fehlender Medikamente geschlossen oder lahm gelegt, öffentliche Krankenhäuser privatisiert, womit ihre Dienste Armen nicht mehr zugänglich waren. Nahrungsmittelsubventionen und Sozialprogramme wurden eingestellt.

Eine der schlimmsten Maßnahmen war die Strategie der „Kostenbeteiligung“ unter Einschluss von „Benutzergebühren“. Wo bisher Gesundheitsversorgung und wichtige Medikamente gratis waren, mussten arme Menschen nun bezahlen. Studien aus mehreren Ländern belegen, dass Benutzergebühren zu einem Rückgang der Inanspruchnahme von Gesundheitsdiensten und zu einer Zunahme von Kindersterblichkeit, Geschlechtskrankheiten und Tuberkulose führen.

In Ghana, einem der bekanntesten Erfolgsbeispiele der Weltbank, ging das Wirtschaftswachstum mit der Einführung von Benutzergebühren einher, die mit zu einer Verdoppelung der Kindersterblichkeit zwischen 1983 und 1993 beitrugen.

Tragische Folgen hatte die „Kostenbeteiligung“ etwa auf die orale Rehydratationstherapie. Nach der Lungenentzündung ist Durchfall die Haupttodesursache bei Kindern (noch immer sterben drei Millionen daran). Fast alle, die an Durchfall sterben, sind unterernährt; gut ernährte Kinder überleben normalerweise. Um die Sterblichkeit an Durchfall zu senken, förderte das UN-Kinderhilfswerk UNICEF die flächendeckende Verteilung von ORS (industriell gefertigten Alu-Päckchen mit Salzen zur oralen Rehydratation), die mit einem Liter sauberem Wasser vermischt werden müssen. Obwohl diese Päckchen relativ teuer waren und zu Abhängigkeit führten, galt diese Methode als sicherer als Müttern beizubringen, einfache Rehydratationsgetränke selbst zuzubereiten.

Vorerst litten die Armen nicht unter diesen Kosten, denn die ORS-Päckchen wurden gratis verteilt. Aber als die Politik der „Kostenbeteiligung“ im Gefolge der strukturellen Anpassung zur Wirkung kam, waren Gesundheitsministerien gezwungen, etwas zu verlangen. 0,1 US-Dollar für ein ORSPäckchen mag wenig erscheinen, doch frisst dieser Betrag einen Großteil dessen auf, was eine Familie in Bangladesch mit einem täglichen Einkommen von umgerechnet 0,2 US-Dollar für Nahrungsmittel ausgibt.

Für jenes Fünftel der Menschheit, das mit weniger als einem Dollar pro Tag lebt, könnte es kontraproduktiv sein, das wenige, für Lebensmittel bestimmte Geld für ORS-Päckchen auszugeben. Selbst wenn ORS heute das Leben eines Kindes rettet, können seine Kosten morgen zu mehr Hunger und Todesgefahr führen.

Heute sind ORS zu einem großen Geschäft geworden. Durch ihre Kommerzialisierung erzeugen konkurrierende Firmen viele verschiedene Formen, Packungen und Geschmacksrichtungen, die für eine Tasse, einen halben oder ganzen Liter Wasser ausreichen. Das kann für Mütter, die nicht lesen können, verwirrend, ja sogar gefährlich sein. ORS, die in zu wenig Wasser aufgelöst werden, können die Dehydrierung verstärken und damit das Todesrisiko erhöhen.

Seit Mitte der achtziger Jahre war die Weltbank direkt an der gesundheitspolitischen Planung im Süden beteiligt. Die Mittel der Bank für Gesundheit betragen heute das Dreifache des Budgets der WHO. Es ist ein unheilvolles Zeichen, wenn eine gigantische Finanzinstitution mit derart engen Verbindungen zum Big Business sich Zutritt zur Gesundheitsversorgung verschafft. Doch mit ihrer enormen Kreditvergabekapazität kann die Weltbank armen Ländern ihr gesundheitspolitisches Modell aufzwingen. Was da geplant war, stand im Weltentwicklungsbericht 1993 der Weltbank „Investing in Health“. Trotz fortschrittlich klingender Begriffe wie „Empowerment“ (Ermächtigung) und „Gesundheit für alle“ ist dieser Bericht ein Meisterwerk der Desinformation.

„Investing in Health“ schlägt einen „dreizackigen Ansatz zur Gesundheitsreform“ vor, „der Millionen von Leben retten und Milliarden US-Dollar einsparen kann“. Auf den ersten Blick klingt jeder Teil vernünftig, sogar gewissermaßen fortschrittlich. Aber das Kleingedruckte enthüllt eine neoliberale Agenda:

– Zacke Eins: „Förderung eines Umfelds, das es Familien ermöglicht, ihren Gesundheitszustand zu verbessern.“
Übersetzung: Familien sollten für ihre Gesundheitsversorgung zahlen. Um das zu ermöglichen, fördere wirtschaftliches Wachstum durch das System des freien Markts! Mit einer Politik, die die Reichen reicher macht, wird angeblich ein Teil des Wohlstands zu den Armen durchsickern, obwohl die Geschichte immer wieder das Gegenteil bewiesen hat.

– Zacke Zwei: „Bessere Zielgerichtetheit der Gesundheitsausgaben der Regierung.“
Übersetzung: Kürze die Regierungsausgaben durch Reduzierung der öffentlichen Dienste auf einige wenige problemspezifische, mit Rücksicht auf Kosteneffizienz gewählte Programme! Lass die Armen für ihre medizinische Versorgung zahlen, obwohl die Erfahrung zeigt, dass sich die Gesundheitssituation dadurch verschlechtert!

– Zacke Drei: „Ermöglichung von größerer Vielfalt und Wettbewerb bei der Versorgung mit Gesundheitsdiensten.“
Übersetzung: Überantworte die meisten Dienstleistungen, die früher für die Armen kostenlos waren oder vom Staat subventioniert wurden, an profitorientierte ÄrztInnen und Unternehmen!

Die Weltbank verweist auf das Gesundheitssystem der USA als Modell für die Welt, sogar obwohl das US-Gesundheitssystem das teuerste und ineffektivste unter den 17 reichsten Nationen der Welt ist. Der Staat sollte nur in kosteneffiziente Gesundheitsmaßnahmen investieren, die einen Beitrag zur „Wirtschaft“ leisten – also die Reichen reicher machen.

Um herauszufinden, welche Gesundheitsmaßnahmen öffentlich unterstützt werden sollten, erfand die Weltbank die „Disability Adjusted Life Years – DALY (ein Maß, das durch frühzeitige Sterblichkeit sowie durch Behinderung verlorene gesunde Jahre miteinander kombiniert; Anm. d.Red.). Ein DALY bewertet die wahrscheinlichen Jahre produktiven Lebens je nach Alter unterschiedlich. Menschen zwischen 20 und 40 haben aufgrund ihres größeren Potentials, zur Wirtschaft beizutragen, einen hohen Wert. In ihre Gesundheit zu investieren bedeutet, mehr DALYs zu retten. Dagegen haben Babys, alte Menschen und Behinderte wenig Wert. Sie tragen nichts zur Wirtschaft bei, daher werden durch Berücksichtigung ihrer Bedürfnisse nur wenige DALYs gerettet.

Das humane Prinzip, jenen zu helfen, die sich in größter Not befinden, ist obsolet. Es handelt sich bloß um eine marktfreundliche Version der Selective PHC im Komplettangebot, mit Privatisierung und benutzerfinanzierter Kostendeckung. Die wirklichen Bestimmungsfaktoren von Gesundheit werden außer Acht gelassen. Die Privatisierung von High-Tech-Gesundheitsdiensten, Budgetkürzungen und die Einführung von Benutzergebühren bedeuten letztendlich nur eines: Gesundheit ist kein Menschenrecht mehr.

Mehr und mehr Menschen gelangen zur Einsicht, dass die ungebremste Konzentration von Reichtum und Macht nicht nur ihre eigene Gesundheit, sondern das Wohlergehen der gesamten Menschheit und das ökologische Gleichgewicht des Planeten bedroht. Der Protest gegen die schädlichen Praktiken der Weltbank, ob in Seattle oder in Prag, hat letztes Jahr zu einer Art Putsch im US-Kongress geführt. Im Sommer beschloss das Repräsentantenhaus, nur mehr dann Mittel für Weltbank und IWF zu bewilligen, wenn diese auf die Forderung nach Benutzergebühren für grundlegende Gesundheitsdienste und Grundschulerziehung in den armen Ländern des Südens verzichten. Die Bedingung wurde von Jesse Jackson Jr. eingebracht, der sich stets offen für Schuldenerlass und wirtschaftliche Gerechtigkeit einsetzt.

VertreterInnen verschiedener Basisbewegungen, einschließlich der Initiative „50 Jahre sind genug“, hatten dazu Beweismaterial aus unterschiedlichsten Ländern präsentiert. Sie zeigten auf, dass „Benutzergebühren“ zu mehr Krankheit, Leid und Todesfällen geführt haben.

Es war ein historisches Ereignis! Die US-Regierung ist die wichtigste Geldgeberin von Weltbank und IWF und seit langem eine treue Verbündete ihrer drakonischen Anpassungspolitik. Erstmals fordert der US-Kongress positive Änderungen. Das zeigt, dass es selbst in unserer aus dem Lot geratenen und bedrohten Welt Grund zur Hoffnung gibt. Wenn Menschen gemeinsam handeln und Mitspracherecht verlangen, können sie nach und nach ein gesünderes, fürsorglicheres Umfeld schaffen. Vielleicht kann doch noch eine Strategie eingeführt werden, die mit „Gesundheit für alle“ ernst macht.

Im Dezember 2000 hielt die People’s Health Assembly (PHA) ein bahnbrechendes Treffen in Bangladesch ab. Mehr als 600 TeilnehmerInnen vertraten fortschrittliche Gesundheitsbewegungen, NGOs und Basisorganisationen aus 100 Ländern. Wo die Politik versagt hat, wird vielleicht die Basis Erfolg haben.

David Werner hat 30 Jahre lang in den Bergen Westmexikos gearbeitet und arme Bauernfamilien dabei unterstützt, ihre Gesundheit und ihre Rechte zu schützen. Zu seinen vielen Veröffentlichungen gehören „Wo es keinen Arzt gibt“ und zuletzt „The Politics of P

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