Unerledigte Geschichte

Von Gerhard Klas · · 2001/10

Das Abschlussdokument der Weltkonferenz gegen Rassismus, die Ende August im südafrikanischen Durban stattfand, wurde als europäischer Erfolg gefeiert. Doch der Streit über Israel erschwerte eine angemessene Behandlung des Themas Sklaverei und anderer Aspekte eines der drängendsten Probleme unserer Zeit.

Das Gedächtnis wird von dieser ‚unerledigten Angelegenheit‘ zwischen Afrika und Europa nicht ablassen“, schreibt Wole Soyinka. Dies müsse einfach zur Kenntnis genommen werden, und dies ungeachtet der häufig gehörten Behauptung, wonach sich die schwarze Rasse seither über dieses geschichtliche Ereignis „hinausbewegt“ habe und dass man deshalb die schändliche Geschichte dieser Vergangenheit in Frieden ruhen lassen sollte. Das neue Buch des nigerianischen Schriftstellers und Literaturnobelpreisträgers von 1986 trägt den Titel „Die Last des Erinnerns – Was Europa Afrika schuldet und was Afrika sich selbst schuldet“.

Die Wahl des Ortes der dritten UN-Weltkonferenz gegen Rassismus sollte Hoffnung auf die Überwindung des Rassismus ausdrücken: Der Apartheidstaat in Südafrika war auf den vorhergehenden Konferenzen als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ verurteilt worden. Nun, nachdem die Apartheid überwunden ist, fand das bisher größte Treffen zum Thema in Durban, einer Metropole an der südafrikanischen Pazifikküste, statt.

Der Ausgang der schwierigen Verhandlungen während der dritten UN-Konferenz gegen Rassismus wird als europäischer Erfolg gefeiert. Das sollte misstrauisch stimmen. Denn neben den USA, die vorzeitig die Konferenz verlassen hatten, sollte eigentlich die EU auf der Anklagebank sitzen. Doch Kolonialisierung und Sklaverei, für die vor allem die USA und die EU besonders nachdrücklich von den afrikanischen Staaten, aber in abgeschwächter Form auch von der UN-Menschenrechtskommissarin Mary Robinson verantwortlich gemacht werden, gerieten ebenso ins Hintertreffen wie andere Formen rassistischer Unterdrückung. Den israelisch-palästinensischen Konflikt benutzten mehrere der insgesamt 163 Regierungsdelegationen, um vom eigentlichen Zweck der Konferenz abzulenken.

Auf den bisherigen Weltkonferenzen gegen Rassismus 1978 und 1983 hatte es ebenfalls zwei regionale Kristallisationspunkte gegeben: den Apartheidstaat in Südafrika und die israelische Besatzungspolitik in Palästina. Während die Verurteilung des Apartheidstaates als „Verbrechen gegen die Menschlichheit“ weitgehend konsensfähig war, wurde eine Resolution, die den Zionismus mit Rassismus gleichsetzte, 1991 wieder aufgehoben. Doch so weit ging diesmal selbst die regionale Vorbereitungskonferenz in Asien nicht, die Ende Januar in Teheran stattfand. „Die Konferenz soll ihre Besorgnis ausdrücken über einen Anstieg rassistischer Praktiken des Zionismus und des Antisemitismus“ steht in der asiatischen Resolution geschrieben. In Durban war sie eine von vier Vorab-Resolutionen, die zuvor auf Regionalkonferenzen in Afrika, Lateinamerika und Europa verfasst worden waren.

Obwohl die Formulierung aus Teheran auf der offiziellen UN-Konferenz alles andere als konsensfähig war und auch die lateinamerikanischen Staaten und viele afrikanische Staaten zumindest die von der arabisch-islamischen Staatengruppe geforderte Verurteilung der Politik Israels gegenüber den Palästinensern als „Holocaust“ oder als eine „Form der Apartheid“ ablehnten, verließen die USA und in ihrem Gefolge Israel vorzeitig die Konferenz. (Sowohl der israelische Ex-Premier Benjamin Netanjahu als auch ein Mitarbeiter des ehemaligen Ministerpräsidenten Ehud Barak, Issac Herzog, kritisierten die Abreise als vergebene Chance, eigene Positionen deutlich zu machen.)

Damit bestätigten sich die Befürchtungen, die viele afroamerikanische und asiatische US-Organisationen, aber auch lateinamerikanische und afrikanische Staaten hegten: ein Streit über Israel werde die Beschäftigung mit Sklaverei und Kolonialismus erschweren und den USA – denen diese Themen auch aus finanziellen Gründen unangenehm werden könnten – einen Vorwand zum Boykott oder vorzeitigen Ausstieg liefern.

Auch die arabisch-islamischen Staaten dürften den Eklat vorausgesehen haben. Viele von ihnen haben ebenfalls ihre „Leichen im Keller“: rassistische Unterdrückung von Minderheiten und letztendlich auch eine untergeordnete, wenn auch nicht unbedeutende Rolle beim historischen Sklavenhandel. Allein 17 Millionen SklavInnen wurden über die nordafrikanischen und arabischen Länder gehandelt. Dennoch wussten die arabischen Staaten auf der Konferenz im Konflikt mit Israel einen bedeutenden Teil der afrikanischen Zivilbevölkerung und einige Regierungen hinter sich. Es gibt finanzielle Abhängigkeiten, einige arabische Staaten wie Libyen spielen eine wichtige Rolle bei panafrikanischen Bestrebungen und vielen SchwarzafrikanerInnen ist die Unterstützung des Apartheidregimes in Südafrika durch den israelischen Staat noch in lebendiger Erinnerung.

Die EU, allen voran der deutsche Außenminister Joschka Fischer, konnte sich nach dem Abgang der USA und Israels bei den Formulierungen zum Nahost-Konflikt als diplomatischer Vermittler präsentieren. „Wir sind besorgt über die Leiden der Palästinenser unter fremder Besatzung. Wir erkennen das unabdingbare Recht der Palästinenser auf Selbstbestimmung und Errichtung eines unabhängigen Staates […] das Recht auf Sicherheit für alle Staaten der Region an, einschließlich Israels […] Wir erkennen das Recht der Flüchtlinge auf freiwillige Rückkehr in ihre Häuser und Besitztümer in Würde und Sicherheit an und drängen alle Staaten, eine solche Rückkehr zu ermöglichen“, heißt es in der angenommenen Kompromissformulierung der südafrikanischen Regierung, die auch von der palästinensischen Delegation und dem israelischen Außenministerium akzeptiert wurde.

Für ihre Vermittlertätigkeit forderten die EU-Delegationen ihren Preis und verhinderten eine formale Entschuldigung für die Kolonialzeit. Statt einer offiziellen Entschuldigung des Westens wurde nur „tiefes Bedauern“ für Sklaverei und Kolonialismus ausgedrückt. Denn laut angelsächsischer Interpretation des Völkerrechts bietet der Begriff „Entschuldigung“ eine Rechtsgrundlage für Entschädigungsklagen.

Stattdessen drängten die EU-VertreterInnen die afrikanischen Regierungsdelegationen – von denen sich die aus Simbabwe und Namibia als besonders hartnäckig erwiesen – auf eine „moralische Reparation“, aus der bei entsprechendem politischen Willen Schuldenerlasse, Wirtschaftshilfe und „Partnerschaft für Afrika und Lateinamerika“ erwachsen sollen. Immerhin – wenn auch nicht besonders nachdrücklich – stellt die Weltkonferenz eine Verbindung zwischen den historischen Ereignissen und der Gegenwart her, die vor allem von rechtskonservativen politischen Kreisen vehement bestritten wird: „Wir bedauern ferner, dass die Effekte und die Hartnäckigkeit dieser Strukturen zu den Faktoren zählen, die heute zu andauernden sozialen und wirtschaftlichen Ungleichgewichten in vielen Teilen der Welt beitragen“.

Nicht nur die Roma und die indischen Dalit (Unberührbare), die das Kastenunwesen ihres Landes anprangerten, „wurden in Durban auf dem Altar des Nahen Ostens geopfert“, so Nils Rosemann, der auf der Konferenz das Forum Menschenrechte vertrat. „Jedes Mal, wenn die Afrikaner versuchen, ein spezifisches Problem auf die Traktatenliste zu setzen, kommen andere mit allen möglichen Forderungen und verwässern das eigentliche Anliegen“, meint auch der nigerianische Literaturnobelpreisträger Wole Soyinka zur UN-Konferenz. Nicht zu reden von den 150 Millionen MigrantInnen in aller Welt, die kaum über ein Sprachrohr verfügen, um ihre Interessen zu artikulieren. Ganz zu schweigen von den sozialen Ursachen des Rassismus und den Gründen für Migrationsbewegungen. Immerhin wurde ein Aktionsplan erstellt, mit dessen Hilfe Erziehungskampagnen, Gleichstellung am Arbeitsplatz und Finanzfonds für die Opfer des Rassismus eingerichtet werden sollen.

Ob diese Ergebnisse tatsächlich in nationale Aktionspläne umgesetzt werden, wie es die Resolutionen fordern, bleibt dahingestellt. Mehr als moralischen Druck werden auch die halbjährlichen Berichte, die zukünftig ein Gremium von „bedeutenden Persönlichkeiten“ erstellen wird, nicht erzeugen können. Und die Abwehrhaltungen sind auch kurz nach der Konferenz schon überdeutlich. Die Resolutionen der Weltkonferenz sind „politische, jedoch keine rechtlichen Dokumente“, kommentierte ein Sprecher der belgischen Regierung, die zur Zeit die EU-Ratspräsidentschaft inne hat.

Die UN-Konferenz, die eines der aktuell drängendsten Probleme hätte aufgreifen sollen, hat ihr Ziel kaum erreicht. Im Gegenteil: Die mächtigen Staaten schickten bis auf wenige Ausnahmen nur niedrigrangige Delegationen nach Durban und zollten so einer weiteren UN-Initiative ihre Geringschätzung. Die 16 anwesenden Staatschefs kamen fast alle aus afrikanischen Ländern Südlich der Sahara. Sie hatten wie viele ihrer Landsleute auf eine erfolgreiche Konferenz gehofft.

Gerhard Klas ist Redakteur der Sozialistischen Zeitung (SoZ) und lebt in Köln.

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