Ungeliebte Grande Nation

Von Axel Veiel · · 2005/02

Die ehemalige Kolonialmacht Frankreich gerät in Afrika immer mehr unter Druck. Französische Truppen haben in vergangenen Jahren ungeliebten Machthabern die Stange gehalten. Der Hass, der sich in Côte d’Ivoire gegen französische BürgerInnen entlädt, ist jüngstes Resultat einer verfehlten Afrikapolitik.

Ich bin etwas aus dem Gleichgewicht geraten.“ Geneviève Padovani sagt das, die 58-jährige Schulleiterin, die nun keine Schulleiterin mehr ist. Etwas aus dem Gleichgewicht geraten? Das klingt nach Missgeschick, nicht nach Katastrophe. Dabei ist für die Französin in Côte d’Ivoire, wo sie vor kurzem noch lebte, alles eingestürzt, was sie in den vergangenen 38 Jahren aufgebaut hatte. Der Fremdenhass hat sich in dem westafrikanischen Land die Bahn gebrochen, das Paris Jahrzehnte lang als Beweis erfolgreicher Afrikapolitik diente.
In Ruanda war die ehemalige Kolonialmacht Frankreich kläglich daran gescheitert, den Völkermord der Hutu an den Tutsi zu verhindern. In Kamerun oder im Tschad war sie in Verdacht geraten, demokratisch fragwürdige Machthaber zu stützen. Aber wenigstens in Côte d’Ivoire, dieser „Schweiz Westafrikas“, war die postkoloniale Welt Jahrzehnte nach der 1960 besiegelten Unabhängigkeit noch in Ordnung gewesen. Bis im vergangenen November der schöne Schein auch dort zerbrach. In der Hauptstadt Abidjan zogen Jugendliche zu Hunderten von Haus zu Haus, machten mit Eisenstangen und Macheten Jagd auf Franzosen – Männer und Frauen – und Französisches.
Die seit 1966 in der Hauptstadt Abidjan lebende Geneviève Padovani wusste, dass der Mob irgendwann auch zu ihr kommen würde. Als es so weit war, als die „junge Patrioten“ genannten Horden das 2.400 SchülerInnen zählende Collège Internationale Jean Mermoz stürmten, hatte sie gerade noch Zeit, das Dach der Schule zu erklimmen. Von dort oben sah sie zu, wie die Eindringlinge losrissen, was nicht niet- und nagelfest war, Wasserrohre in die Luft sprengten, Vorhänge mit Benzin tränkten und anzündeten.

Wenn die Schuldirektorin, die ihr Lebenswerk in Brüche gehen sah, darüber nur „etwas aus dem Gleichgewicht geraten“ sein will, sagt dies weniger über ihr Innenleben als über ihren Willen aus, im fremden Frankreich schnell Fuß zu fassen. Vielleicht wird Padovani in Paris ja LeidensgefährtInnen finden. Nicht nur sie, diese energische kleine Frau mit den grünen Augen, ist Hals über Kopf geflohen. 8.000 in Côte d’Ivoire lebende Französinnen und Franzosen sind in den vergangenen Monaten ins Mutterland zurückgekehrt. Genauso viele sind allerdings auch geblieben und leben nun in der Angst vor dem nächsten Ansturm der „jungen Patrioten“. Denn der Hass schwelt weiter, er ist sogar gewachsen.
Frankreich hat nämlich zurückgeschlagen. Was die Pariser Regierung zunächst geleugnet hatte, räumt sie nach Wochen hinhaltenden Widerstands inzwischen ein. Drei Tage nach Ausbruch der Feindseligkeiten haben französische Soldaten in Abidjan mit scharfer Munition in eine aufgebrachte Menschenmenge geschossen. Etwa 20 tote ZivilistInnen und Soldaten habe es bei Zusammenstößen dieser Art gegeben, heißt es im Pariser Verteidigungsministerium. Die Regierung in Abidjan spricht von 57 Toten.

Aus dem Gleichgewicht geraten sind eben nicht nur in Côte d’Ivoire lebende Franzosen und Französinnen. Aus dem Gleichgewicht geraten ist Frankreichs Afrikapolitik schlechthin. Als einziges europäisches Land unterhält die frühere Kolonialmacht noch Militärstützpunkte auf dem Kontinent. In Senegal, Gabun, Kamerun, Djibouti, Réunion und Côte d’Ivoire tun insgesamt 13.000 französische Soldaten Dienst. Hinzu kommen 1.400 Mann, die im Tschad, in Zentralafrika und im Golf von Guinea mit zeitlich befristeten Überwachungs- und Friedensmissionen betraut sind.
„Ich verstehe nicht, wieso französische Truppen noch in Afrika stehen“, hat Libyens Staatschef Muammar Ghaddafi kürzlich einem Reporter des „Figaro“ anvertraut. In der Vergangenheit schien Frankreichs Militärpräsenz in Afrika noch selbstverständlich zu sein. Die Kolonialmacht war nach der Unabhängigkeit ihrer Kolonien ja nicht nur militärisch, sondern auch wirtschaftlich und kulturell präsent geblieben. Die neuen afrikanischen Staatenlenker vergaben den Großteil öffentlicher Aufträge wie gewohnt an französische Konzerne, die in den meisten Branchen weiterhin den Ton angeben. Der Franc der Afrikanischen Finanzgemeinschaft sicherte die währungspolitische Bindung an das Mutterland. Dass Paris mit eigenen Soldaten ordnungspolitische Interessen verfechten und seine in den aufgegebenen Besitztümern gebliebenen BürgerInnen schützen wollte, passte ins postkoloniale, paternalistische Bild. Es erregte nicht nur wenig Anstoß, es war einigen Staats- und Regierungschefs sogar hoch willkommen. So mancher von ihnen erhofft sich noch heute von den Legionären eine Festigung seiner Macht und Rückhalt im innerafrikanischen Kräftemessen. Allein das Volk wendet sich ab. In fast allen ehemaligen Kolonien ertönen inzwischen die zuletzt auch in Abidjan angestimmten Parolen: Franzosen raus!

Eine wachsende „Frankophobie“ macht Comi Toulabor, der in Bordeaux am „Zentrum für Studien über Schwarzafrika“ forscht, in den französischsprachigen Ländern Afrikas aus. Dort sei eine Generation herangewachsen, die in der früheren Kolonialmacht eine an Status quo und Stabilität interessierte Komplizin afrikanischer Tyrannen sehe, glaubt Toulabor. Aus seiner Sicht hat Paris in der Tat den Fortbestand demokratisch wenig legitimierter Herrschaft gesichert. Auf Omar Bongo verweist der Forscher unter anderem, Gabuns wenig geliebten Präsidenten. Er hält sich seit bald vierzig Jahren an der Macht, nicht zuletzt dank französischer Truppen, die bei gewaltsamen Aufständen 1990 zu seinen Gunsten eingegriffen hatten.
Die Pariser Regierung hat den Stimmungsumschwung in den ehemaligen Kolonien aufmerksam registriert und Konsequenzen gezogen. Wo Frankreich nach Toulabors Worten „40 Jahre lang den Gendarmen abgab“, soll es „nicht mehr Einmischung, aber auch nicht Gleichgültigkeit“, geben. Lionel Jospin, Präsident Jacques Chiracs früherer sozialistischer Premierminister, hatte diese Losung bereits Ende der 1990er Jahre ausgegeben. Außenminister Michel Barnier hat sie sich zu eigen gemacht und kürzlich noch einmal darauf hingewiesen, dass Paris nicht dazu berufen sei, in Afrika den Polizisten zu spielen.

In Côte d’Ivoire zeigt sich freilich, dass der Spielraum zwischen Einmischung und Gleichgültigkeit gering und das Risiko groß ist, dass unter dem Motto „weder das eine noch das andere“ Halbherziges oder gar nichts herauskommt. In Abidjan bieten die früheren Kolonialherren ein Bild der Hilflosigkeit. Als ehrliche Makler wollten sie zwischen Aufständischen und Staatschef Laurent Gbagbo vermitteln. Bei Paris unterzeichneten die Konfliktparteien im Jänner 2003 ein Friedensabkommen. Französische Soldaten übernahmen im Auftrag der Vereinten Nationen die Sicherung einer Pufferzone zwischen den Rebellen im Norden und den Regierungstruppen im Süden des Landes. Doch um das Vereinbarte durchzusetzen, reichte die Kraft nicht mehr. Militärflugzeuge Gbagbos, der die Macht nicht teilen mag, bombardierten eine französische Einheit und töteten neun Soldaten. Frankreich zerstörte die ivorische Luftwaffe. Und dann entlud sich auf den Straßen Abidjans der Hass gegen die früheren Kolonialherren, die doch Friedensstifter sein wollten. Gbagbo selbst hatte ihn zuvor noch geschürt. Dass er, von den Aufständischen bedrängt, die Franzosen im Herbst 2002 zu Hilfe gerufen hatte, davon wollte er gut zwei Jahre später nichts mehr wissen.
Dabei schienen die IvorerInnen lange Zeit wie kaum ein anderes Volk dafür geschaffen, auf den Trümmern der Kolonialherrschaft ein blühendes Gemeinwesen zu errichten. „Jetzt, da wir das elterliche Haus verlassen und volljährig sind, wollen wir das französische Erbe weiterentwickeln und mehren.“ Felix Houphouët-Boigny hatte dies am Tag der Unabhängigkeit gesagt und später als Präsident erfolgreich in die Tat umgesetzt.

Heute ist Houphouëts Rede Relikt einer Geschichte, in der die Grande Nation nicht nur sich selbst, sondern auch den afrikanischen Völkern groß erschienen war. Groß sind aus Sicht vieler junger AfrikanerInnen nur noch die USA. Dort stehen ihnen die Universitäten eher offen als in Frankreich, und es lassen sich frei von historischer Erblast wirtschaftliche und politische Beziehungen knüpfen. Während Washington selbstbewusst potenzielle afrikanische Erdöllieferanten hofiert, sucht Paris in seiner Bedrängnis den Beistand der Völkergemeinschaft. Auf Antrag Frankreichs hat die UNO ein Waffenembargo über Côte d’Ivoire verhängt. In Benin haben 15 Staaten südlich der Sahara unter französischer Schirmherrschaft die Bildung einer afrikanischen Friedenstruppe vorangetrieben. Ob solche Initiativen der aus Abidjan vertriebenen Schulleiterin eines Tages noch einmal das Tor nach Afrika aufstoßen? Sie träume davon, sagt sie.

Der Autor ist Frankreich-Korrespondent mehrerer deutscher Tageszeitungen mit Sitz in Paris.

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