Unteilbare Sicherheit

Von Jeremy Seabrook · · 2005/04

Für manche bedeutet Sicherheit ein beruhigendes Aktienportfolio und ein Leben in einer Siedlung hinter bewachten Toren; für andere sauberes Trinkwasser und genug zu essen. Beides ist untrennbar miteinander verbunden, meint NI-Autor Jeremy Seabrook.

Wer glaubt, eine Verschärfung von Überwachungsmaßnahmen im Inland und Vernichtungsfeldzüge im Ausland würden die Sicherheit erhöhen, unterliegt einer grausamen Täuschung. Ein derart enger Begriff von „Sicherheit“ wird wahrscheinlich die gegenteilige Wirkung erzielen. Unsicherheit ist eine wesenhafte Eigenschaft des Lebens in der gesamten industrialisierten Welt. Sie prägt unser aller Schicksal. Unsicherheit ist Teil des Bauplans einer globalisierten Wirtschaft. Dass niemand auf der Welt ein sicheres Auskommen und einen gesicherten Platz in der Gesellschaft haben sollte, ist zum hehren Grundsatz geworden. „Die Welt schuldet uns nichts“, heißt es. Wir müssen unseren eigenen Platz in der Weltwirtschaft finden.
Im Streben nach Wohlstand wurde die Menschheit durch Entwurzelungsprozesse epischen Ausmaßes in Bewegung versetzt, vom Feld und Dorf in die Stadt, von Land zu Land und von Kontinent zu Kontinent. Der/die MigrantIn ist die typische Figur unserer Zeit, jeder Eigenständigkeit beraubt und durch Unsicherheit gezwungen, die Heimat zu verlassen und herumzuwandern, auf der Suche nach einem privaten Arrangement mit weltweit wirksamen, kaum verstandenen Kräften. Allein in den USA leben – laut der Volkszählung von 2001 – mehr als 30 Millionen Menschen, die anderswo auf die Welt kamen; das sind mehr als elf Prozent der Gesamtbevölkerung.

In allen Ländern lassen sich transnationale Unternehmen an einem Tag nieder, um am nächsten wieder zu flüchten – vor steigenden Kosten, Streiks oder fallenden Umsätzen. Regierungen versteigern die Arbeit ihrer BürgerInnen oft unter den Lebenshaltungskosten. Selbst an den privilegiertesten Orten können Menschen eines schönen Morgens in die Arbeit kommen und feststellen, dass ihr Name an der Bürotür fehlt, ihr Schreibtisch leer ist und, wenn sie Glück haben, vielleicht ein Scheck mit einer Abfindung auf sie wartet. Ganze Industriezweige gehen zugrunde, blühende Gegenden werden zu Einöden, Textilfabriken in Luxusappartements verwandelt, Kaufhäuser in Studios und Büros. Innenstädte verfallen, und die Menschen ziehen weiter, eine unaufhörliche Karawane von Flüchtlingen, Ausgewiesenen, von der Entwicklung Vertriebenen. Selbst die Privilegierten entdecken, dass wir alle WirtschaftsmigrantInnen sind, auf ungewissen Wegen zu unbekannten Zielen.
Unsicherheit ist ein untrennbarer Bestandteil der Ideologie der Wohlstandsproduktion. Nur der Stachel der Unsicherheit, so die Annahme, wird Menschen davon abhalten, in faule Zufriedenheit zu verfallen. Nur Unsicherheit wird sie auf Trab halten und der Schrecken erregenden Eventualität vorbeugen, dass sie ihre Bedürfnisse für rundherum befriedigt erklären. Wir sind von einer Wirtschaft abhängig, die immer subtilere Varianten der Unsicherheit herbeiführt.

Tatsächlich lassen sich die grundlegenden Bedürfnisse einfach befriedigen. Die Ressourcen zur Beseitigung des Hungers, zur Bereitstellung von Trinkwasser, ausreichender Nahrung, Unterkunft und Gesundheitsversorgung sind durchaus vorhanden. Ob hungernde Adivasi in Chattishgarh, entwurzelte BäuerInnen in Chiapas, arbeitslose Fabrikarbeiter in São Paulo, Landlose in Minas Gerais, vertriebene SlumbewohnerInnen in Dhaka, bedrohte Indigene in Kalimantan, Flüchtlinge in Gaza, verschuldete Angestellte in Detroit und Süchtige in Glasgow, alle wollen sie dasselbe: Sie wollen ein einfaches, sicheres Auskommen, eine Zeit der Ruhe und Sicherheit, um ihre Kinder aufziehen zu können. Aber das ist ihnen nicht vergönnt, denn das würde den heiligen Mysterien der Wohlstandsproduktion zuwiderlaufen. Absonderliche Kulte werden praktiziert, von einer Grausamkeit, wie sich die menschliche Gesellschaft noch keine groteskere erdacht hat. „Gib mir weder Reichtum noch Armut“, sagte der Prophet, „aber genug, um zu überleben“. Aber „genug“ ist eine Blasphemie gegen den Zwang zum „immer mehr“. Diese Dynamik erzeugt die monströse Unsicherheit sowohl des Übermaßes als auch des Mangels – die Wurzel eines Gutteils der heutigen Gewalt.
Die Unsicherheit der Reichen in ihrem goldenen Käfig lässt sich von der Unsicherheit der Armen in ihrer Rauheit und Ausgezehrtheit nicht trennen. Sie gehören zusammen. Die Intensivierung der bestehenden weltweiten Beziehungen als Ausweg für beide ist ein zum Scheitern verurteiltes Unterfangen, das bloß die Wahrscheinlichkeit einer Wiederholung von Ereignissen wie jener vom 11. September erhöht.
Der Konflikt zwischen Israel und den PalästinenserInnen etwa spielt sich an einem der wenigen Orte ab, wo ein Lebensstil des reichen Nordens unmittelbar mit der Armut des Südens zusammentrifft – ein Drama, in dem die unterschiedliche Bedeutung klar wird, die Menschenleben, sozialer Gerechtigkeit und insbesondere der Unsicherheit der jeweils anderen beigemessen wird.
Die Reichen müssen ihre ungesicherten Vorteile verteidigen, während die Armen für ein prekäres Überleben kämpfen. Sich als Amerikanerin, als Muslim, Jüdin oder Hindu zu fühlen erschwert die Wahrnehmung materieller Ungleichheiten, die täglich zunehmen und uns voneinander entfernen. Kulturelle und religiöse Gegensätze werden zwar durch mehr Fairness nicht verschwinden, sich jedoch zweifellos verschärfen, wenn Ungleichheit und Ungerechtigkeit unaufhaltsam zunehmen.

Sicherheit bedeutet, dass Menschen in der Lage sind, ihre eigenen Bedürfnisse zu definieren und zu befriedigen, dort, wo sie leben, frei von Ausbeutung, Gewalt und Verfolgung. Sicherheit kommt von innen – aus dem Inneren eines Landes und dem Inneren eines Menschen. Die Art von „Sicherheit“, die von den Führern der USA und ihrer Koalition beschworen wird, ist ebenso trügerisch wie die von Indien oder von Bangladesch, die beide behaupten, „Ernährungssicherheit“ erreicht zu haben, obwohl Millionen Menschen jeden Tag in Unsicherheit darüber leben, ob sie genug zu essen haben werden.
Natürlich, auf einer tieferen Ebene streben wir alle nach einer Sicherheit, die es nicht gibt: Alter, Krankheit, Verluste und Tod stehen unserem Wunsch nach Dauerhaftigkeit und Vorhersagbarkeit entgegen. In der Regel erfüllen menschliche Kulturen die Funktion, diesen Widerspruch zu mildern, Trost zu spenden angesichts unseres stetigen Verfalls in einer Welt, in der die Zeit uns alle am Ende besiegen wird. Das war einmal. Unsicherheit, ob existenziell oder sozial, ist heute die Geschäftschance eines anderen. Keine Gesellschaft auf Erden kann diese existenziellen Kränkungen beseitigen, aber es kann Gesellschaften geben, die versuchen, diese unabänderlichen Leiden erträglicher zu machen, anstatt sie als Quelle des Profits für die Schlauen und Geschäftstüchtigen zu behandeln.

Es ist spät nachts in Mumbai. Auf einem Gehsteig schlafen drei Kinder. Ein kleiner Bub, das Gesicht seiner Schwester zugewandt, ihre Beine ineinander verschlungen, die Köpfe aneinander, dunkle Blüten auf dem nackten Boden. Im Platz zwischen ihnen schläft ein Kind von vielleicht zwei Jahren, völlig sicher in der von ihren winzigen, wehrlosen Körpern gebildeten Kammer.

Copyright New Internationalist

Jeremy Seabrook schreibt häufig für den New Internationalist. Sein neuestes Buch, „Consuming Cultures. Globalization and Local Lives“, kann unter

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