Video macht stark

Von Sven Hansen · · 2003/03

In indischen Dörfern bekommen Analphabetinnen am unteren Ende der sozialen Hierarchie durch selbst gedrehte Videofilme eine Stimme. So wächst nicht nur ihr Selbstwertgefühl, sondern auch ihr gesellschaftlicher Status.

Budidapati Punnemma lebt im Dorf Pastapur im Bezirk Medak im südindischen Bundesstaat Andhra Pradesh. Die 32-jährige im Sari gekleidete Witwe ist eine Dalit, eine „Kastenlose“ oder „Unberührbare“.
Damit steht sie im hinduistischen Kastensystem lebenslänglich auf der alleruntersten Stufe. Punnema hat zudem nie eine Schule besucht und bringt sich und ihre zwei Töchter gerade durch. Doch vor fünf Jahren lernte sie mit der Videokamera umzugehen. Seitdem dreht Punnema Filme, obwohl sie bis heute nicht Lesen und Schreiben kann.
300 Videokassetten voller Filmaufnahmen habe sie inzwischen produziert, sagt Punnemma stolz. Das habe sie allerdings nicht allein gemacht, fügt sie hinzu, sondern zusammen mit einer Kollegin aus einem Nachbardorf. Die ist wie sie Dalit und kann auch nicht Lesen und Schreiben. Doch die beiden beherrschen nicht nur die Kamera und konzipieren ihre Filme selbst, sie führen auch einfache Schnittarbeiten durch. Die zwei Frauen bilden ein Team und wechseln einander immer wieder ab. Das gibt ihnen Sicherheit und lässt sie schwierige Situationen leichter durchstehen.

„Wir filmen Probleme in unseren Dörfern und die Aktivitäten der Sanghams, unserer dörflichen Frauengruppen“, erklärt Punnemma in ihrer Muttersprache Telugu. „Die Filme zeigen wir dann bei unseren Treffen oder in den Nachbardörfern.“ Die Frauen dokumentieren die Situation ihres Dorfes und ihre Aktivitäten aus eigener Perspektive mit ihren Bildern. Die drücken aus, was die Frauen nie schriftlich mitteilen könnten.
Ihre Dokumentarvideos geben den ländlichen Dalit-Frauen eine Stimme, machen sie sichtbar und selbstbewusst und heben ihren gesellschaftlichen Status. „Indiens Mainstream-Medien berichten kaum über solche Dörfer“, meint P. V. Satheesh. „Deshalb müssen sie ihre eigenen Medien entwickeln, um sich selbst Gehör zu verschaffen.“ Satheesh war früher selbst Dokumentarfilmer und Filmproduzent. Eines Tages hatte er davon die Nase voll, gründete die Organisation „Deccan Development Society“ (DDS) und begann zwei Autostunden westlich von Andhra Pradeshs Hauptstadt Hyderabad damit, Dalit-Landfrauen in Selbsthilfegruppen zu organisieren. Inzwischen gibt es 5.000 Frauen in 75 Dorfgruppen.

In ihren Dörfern haben sie die Produktion auf ökologischen Landbau umgestellt und sind zu traditionellem Saatgut zurückgekehrt. Das produzieren die Dalitfrauen selbst und verwalten es in eigenen Genbanken mit dem Ziel, die verlorene biologische Vielfalt wieder zurückzugewinnen. Die von den Frauen selbst gedrehten Videos zeigen Methoden des Anbaus, der Bewässerung, der Schädlingsbekämpfung oder auch Flut- und Erosionsschäden. Sie beschäftigen sich auch mit Kinderbetreuung, Dorffesten oder Dialogen mit lokalen Politikern und BesucherInnen.
„In Zeiten der Globalisierung formen der Markt und die Medien die Ideen der Menschen über Lebensmittel und Landwirtschaft“, meint Satheesh. Indiens kommerzielle Medien, die von den Idealen der Ober- und Mittelschicht dominiert würden, propagierten zum Beispiel Reis und Weizen. Deren Anbau sei aber nur auf bewässerbaren oder relativ guten Böden sinnvoll, während traditionelle und widerstandsfähigere Feldfrüchte wie Hirse von den Medien marginalisiert würden. Inzwischen würde dieses traditionelle Getreide nur noch als „Hungerfutter“ wahrgenommen, sagt Satheesh. Viele arme Bäuerinnen und Bauern bauten es inzwischen selbst nicht mehr an, auch weil damit ein Minderwertigkeitskomplex verbunden sei.

Autonomie entwickeln. Bei der Arbeit seiner Entwicklungsorganisation DDS stehe die Autonomie über Saatgut und natürliche Ressourcen, über den eigenen Markt und die eigenen Medien im Mittelpunkt, sagt Satheesh. Die Frauen propagierten in ihren Videos den Anbau traditioneller Getreidesorten, und das nicht nur durch Aufnahmen von Feldarbeit und Äckern, sondern zum Beispiel auch durch eine siebenteilige Serie über Hirsegerichte. Diese Kochshow zeigte sogar ein regionaler Fernsehkanal. „Wir sind sehr stolz, wenn sich jemand von auswärts für unsere Filme interessiert“, sagt Punnemma.
„Da wir selbst von hier stammen, haben die Dalitfrauen uns gegenüber keine Scheu und sagen uns offen ihre Meinung“, erklärt Laxamamma. Sie ist eine von sieben Frauen aus dem DDS-Netzwerk der Dorfgruppen, die im Umgang mit der Kamera geschult wurden. Fremden Journalisten gegenüber hätten die Frauen dagegen Hemmungen, sich auszudrücken. Die Video-Frauen haben den Begriff der „Sangham-Perspektive“ geprägt, also des Blicks auf gleicher Augenhöhe samt gleichberechtigter Kommunikation. Dies stehe im Gegensatz zur „Patel-Perspektive“ von oben nach unten, benannt nach einer Grundbesitzer-Kaste, und der umgekehrten „Sklaven-Perspektive“ von unten nach oben.
„Meine Studenten im dritten Semester machen zum Teil nicht so gute Filme wie diese Frauen“, sagt der Dozent Vinod Pavarala. Er unterrichtet an der Universität Hyderabad Massenkommunikation und begleitet die Dalit-Videofrauen wissenschaftlich. „Die Nutzung partizipatorischer Videos bei der Entwicklung vernachlässigter Gemeinden wurde in Kanada Ende der 60er Jahre entwickelt“, erklärt Pavarala. Benannt nach der Insel Fogo in Neufundland sei diese Methode als „Fogo-Prozess“ in die Sozialwissenschaft eingegangen.

In Indiens Bundesstaat Gujarat nutzt SEWA (vgl. das Interview mit SEWA-Geschäftsführerin Namrata Bali im letzten SÜDWIND), eine Selbsthilfeorganisation von Frauen im informellen Sektor zur Bewusstseinsbildung und Mobilisierung, seit 1984 Videos, die die Frauen selbst gedreht haben. SEWA-Videos sind inzwischen in vielen Ländern gezeigt worden und schaffen es auch immer wieder ins indische Fernsehen. SEWA inspirierte auch Satheesh.
„Trotz der zum Teil sehr guten Qualität der Filme ist der mit ihnen einhergehende partizipatorische Prozess wichtiger als das Produkt selbst“, meint Pavarala. „Die Videos stärken Gemeinschaftsgefühl und Identität.“ So berichtet er, dass eine der Frauen vom Grundbesitzer aufgefordert worden sei, zu einer Hochzeitsfeier in sein Haus zu kommen – mit der Kamera. Noch nie hätten Dalit das Haus betreten dürfen. Jetzt sei die Frau nicht nur in die Privatgemächer gelangt, sondern hätte ihn sogar angewiesen, den störenden Fernseher auszuschalten und die Beleuchtung zu ändern. Dabei habe sie das Gefühl bekommen, so Pavarala, dass der Grundbesitzer nicht nur sie anders wahrnehme, sondern Dalits insgesamt.

www.ddsindia.com

Sven Hansen ist Asienredakteur der tageszeitung (taz) in Berlin und bereiste kürzlich Indien.

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