Vielfalt im Fadenkreuz

Von Redaktion · · 2014/10

Der Nordirak stürzt ins Chaos. Die Situation ist verworren. Experte Thomas Schmidinger beantwortet die wichtigsten Fragen rund um den „Dschihad“ gegen die Vielfalt.

Wieso werden die Jesiden vom IS als „Teufelsanbeter“ verfolgt?
Die Verfolgung basiert auf einem über Jahrhunderte hinweg tradierten Missverständnis: Die auf vorislamische Wurzeln zurückgehende Religion, die vom im 12. Jh. lebenden Sufi-Sheikh Adi ibn Musafir (Kurdisch: Şêx Adî) ihre heutige Form erhielt, verehrt neben Gott selbst auch den Engel Tausî Melek (Engel Pfau), der als erster und treuester Engel Gottes gilt. Da Tausî Melek Gott besonders treu verehrte, hielt er sich auch an Gottes erstes Gebot, niemanden außer Gott selbst anzubeten. Deswegen weigerte er sich, dessen Anweisung Folge zu leisten, sich nach der Erschaffung Adams vor dem Menschen niederzuwerfen. Tausî Melek wurde nicht verstoßen, sondern zum Mittler zwischen Menschen und Gott.

Die Ähnlichkeit zur christlich-islamischen Satansgeschichte vom verstoßenen Engel wurde zur Unterstellung genutzt, „Teufelsanbeter“ zu sein. Im Gegensatz zu diesen beiden Religionen kennen die Jesiden allerdings keine Hölle als Ort ewiger Verdammnis – und auch keinen Teufel.

Wie ging es den Jesiden unter dem Regime Saddam Husseins?
Saddam Hussein ließ in den 1970er Jahren ihre Dörfer zerstören und vernichtete damit ihre jahrhundertealte Bauernkultur. Die Stadt Sinjar wurde dadurch zu einer jesidischen Stadt. Hier standen die vertriebenen Bergbäuerinnen und -bauern unter der politischen Kontrolle des Baath-Regimes und sollten arabisiert werden. Bis heute gibt es unter den kurdischsprachigen Jesiden kleinere Gruppen, die sich als Araber definieren. Manche sehnen sich sogar in diese Zeit zurück, in der sie zwar unterdrückt, aber nicht wie durch den IS willkürlich ermordet wurden.

Welche religiösen Minderheiten gibt es im Irak noch?
Die deutliche Mehrheit der rund 30 Mio. IrakerInnen heute sind Muslime, wobei die Schiiten etwa 60 Prozent und die Sunniten rund ein Drittel der Bevölkerung ausmachen. Daneben gibt es teilweise schiitisch geprägte Heterodoxien wie die Schabak und die Kakai oder Ahl-e Haqq. Von der einst großen jüdischen Gemeinde gibt es nur noch wenige alte Gemeindemitglieder in Bagdad. In Bagdad und im Südirak leben noch Mandäer, Anhänger eines Glaubens, der jüdische, christliche und gnostische Elemente enthält. Die Christen teilen sich in die Syrisch-Orthodoxe Kirche, die mit der römisch-katholischen Kirche unierten Chaldäer und die Assyrische Kirche.

Wieso ist die nordirakische Region um Mossul so besonders?
In der Umgebung der Stadt finden sich die wichtigsten Siedlungsgebiete der Christen, Schiiten, Jesiden und Schabak. Die Ninive-Ebene östlich von Mossul bildete etwa das größte noch verbliebene mehr oder weniger geschlossene Siedlungsgebiet aramäischsprachiger Christen.

Das Gebiet um Sinjar (Kurdisch Şingal) nahe der Grenze zu Syrien war bis Anfang August 2014 das größte Siedlungsgebiet der Jesiden. Bisher noch beschützt werden konnte die kleinere jesidische Enklave bei Sheikhan mit dem religiösen Zentrum von Lalisch. Dort befindet sich das Grab von Şêx Adî. Hierher führen Pilgerfahrten von Jesiden aus aller Welt. In der nahe gelegenen Stadt Sheikhan residiert Bavê Şêx, das geistliche Oberhaupt der Jesiden, und in der Ortschaft Badra Mîra mit dem Mîr (Prinz) das weltliche.

Zwischen diesen religiösen Zentren der Jesiden und den – ehemaligen – christlichen Siedlungsgebieten in der Ninive-Ebene trifft man auf eine weitere akut bedrohte religiöse Minderheit: die schiitischen Schabak.

Werden die anderen religiösen Minderheiten also auch verfolgt?
Definitiv. In Mossul waren die Christen bereits Mitte Juli durch den IS vor die Alternative gestellt worden, entweder zu konvertieren, einen inferioren Status als Schutzbefohlene (Dhimmis) zu akzeptieren oder die Stadt zu verlassen. Die Mehrzahl floh in der Folge zu den Kurden und zu Christen in der Ninive-Ebene, die dann Anfang August selbst vom IS vertrieben wurden. Bis dahin waren die Distrikte Bakhdida und Tel Keppe die einzigen im Irak, in denen eine christliche Mehrheit existierte. Seither befinden sich über 100.000 Christen aus Bakhdida und Tel Keppe auf der Flucht. Die Dschihadisten des IS begannen nach der Einnahme des Gebietes Kirchen zu schänden und jahrhundertealte Kulturschätze zu zerstören.

In den Schabak sehen die sunnistischen Extremisten des IS, wie in allen Schiiten, ein Vernichtungsziel. Die Pilgerstätten der Schabak, wie das Heiligtum von Ali Rash, wären bei einem Vordringen des IS in diese Gebiete möglicherweise noch stärker gefährdet als die christlichen Kirchen in der Ninive-Ebene.

Wo und wie leben die Flüchtlinge?
Zehntausende Jesiden flüchteten in die Berge des Jebel Sinjar (auf Kurdisch Çiyayê Şingal) und leben jetzt in Flüchtlingscamps in der Region Kurdistan im Irak oder in der Türkei. Auch die meisten christlichen Flüchtlinge mussten, wie zuvor schon die Jesiden, ihr gesamtes Hab und Gut zurücklassen und sind heute als völlig besitzlose Flüchtlinge in Flüchtlingslagern und in der christlich-aramäischen Stadt Ain Kawa bei Erbil gelandet, ca. 90 km von Mossul entfernt. Unter den alteingesessenen Christen in Ain Kawa herrscht allerdings die Angst, vielleicht zum nächsten Opfer des IS zu werden.

In den Flüchtlingslagern der Provinz Dohuk nördlich von Mossul stießen die christlichen Flüchtlinge wiederum auf Flüchtlinge aus dem Jebel Sinjar.

Wie groß die Minderheiten in der Region sind bzw. bisher waren, kann nur grob geschätzt werden. Seit den 1960er Jahren hat es keine Volkszählung mehr im Irak gegeben.

Christen: Zwischen 240.000 und 360.000 Christen lebten demnach bisher im Irak, der überwiegende Teil davon in der Ninive-Ebene.

Jesiden: Von den weltweit etwa 800.000 Jesiden lebten grob geschätzt bisher 550.000 im Irak, etwa 75 Prozent davon im Siedlungsgebiet Jebel Sinjar.

Die Zahl der um Mossul lebenden Schabak wurde bisher auf mehr als 50.000 geschätzt.

Wie ist das Verhältnis der Jesiden zu den Kurden?
Die Mehrheit der Jesiden sieht sich auch aufgrund ihrer kurdischen Sprache selbst als Kurden. Allerdings nicht alle. Neben dem Konzept eines arabischen Jesidentums schwirren auch Ideen über eine eigene jesidische Ethnizität in den Köpfen mancher jesidischer Intellektueller herum. Solche Ideen sind nicht zuletzt Ausdruck des historischen Misstrauens gegenüber sunnitischen Kurden. Schließlich hatten sich nicht nur arabische, sondern auch kurdischen Sunniten immer wieder an den Verfolgungen gegen Jesiden als vermeintliche „Teufelsanbeter“ beteiligt.

Was hat das Verhältnis mit der aktuellen Situation zu tun?
Im Juni hatten nach der Eroberung von Mossul durch den IS kurdische Peschmerga-Streitkräfte die Stadt und die Region gesichert. Allerdings zogen sich diese am 2. August vor den Angriffen des IS zurück und überließen die zurückgebliebenen ZivilistInnen sich selbst. Bis heute sind die Ursachen dieses Rückzuges nicht geklärt.

Viele Jesiden werfen der in der Autonomieregion regierenden Demokratischen Partei Kurdistans (PDK), die die Peschmerga kommandierte, Verrat vor. Die von konservativen Sunniten geführte PDK wird von vielen verdächtigt, aus religiösen Gründen die Jesiden ihrem Schicksal überlassen zu haben. Der rivalisierenden PKK, die im Irak bis zu diesem Sommer nie Fuß fassen konnte, gab das die Möglichkeit, sich als Beschützerin der religiösen Minderheiten zu inszenieren.

Welche Perspektiven haben die Minderheiten?
Mit Christen und Jesiden sind sich VertreterInnen der Schabak einig, dass es mehr als nur Luftangriffe auf den IS benötigt, damit die Region wieder sicher wird. Der IS muss zerschlagen werden. Andernfalls drohen die religiöse Vielfalt und der kulturelle Reichtum der Region für immer zerstört zu werden.

Würden die Jesiden dann nach Sinjar zurückkehren?
Von den jesidischen Flüchtlingen will heute kaum jemand wieder zurückkehren. Die meisten haben das Vertrauen in Masud Barzani, den Präsidenten der Autonomen Region Kurdistan, und Regierungschef Nechirvan Idris Barzani verloren. Denn die zwei Entscheidungsträger stammen aus einer sunnitischen Familie.

Jesidische Politiker wie Mirza Dinnayi von der „Unabhängigen jesidischen Liste“ fordern mittlerweile internationalen Schutz – und eine eigene Autonomieregion für die Jesiden am Çiyayê Şingal. Allein auf die Peschmerga will sich Dinnayi nicht noch einmal verlassen müssen.

Redaktionelle Bearbeitung: Richard Solder

Thomas Schmidinger ist Politikwissenschaftler an der Uni Wien und Generalsekretär der ­Österreichischen Gesellschaft zur Förderung der Kurdologie.

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