Vom Funken zum Flächenbrand

Von Redaktion · · 2005/02

Die chinesische Landbevölkerung, geplagt von Steuern und Korruption, schlägt zurück. Um die Lage zu beruhigen, müsste sie ein formelles Mitspracherecht erhalten, meint NI-Autor Yu Jianrong.

Als mehr als 30 Polizisten, Finanzbeamte und Gemeindefunktionäre in Luhuatan eintrafen, um Mao Mingda wegen der „Organisation eines Massenboykotts der Schlachtsteuer“ zu verhaften, sah sich das „Einsatzteam“ bald von einer Menge BäuerInnen umringt. Es kam zu einer Auseinandersetzung, bei der 15 Polizisten und Funktionäre verletzt und zehn andere von der wütenden Menge nackt ausgezogen wurden. Schließlich musste die Polizei Mao Mingda freilassen. In Suyuan im Bezirk Yizhang wiederum wollten rund 100 Polizisten den Aktivisten Zhou Binghui festnehmen, wurden aber von Einheimischen entdeckt. Mit Hilfe von Trillerpfeifen und Gongs konnten rasch 2.000 Leute mobilisiert werden, die die Polizisten umzingelten. Mehr als 1.000 Menschen verfolgten sie bis zum Sitz der lokalen Verwaltung, wo sie Büros und Wohnungen von Beamten verwüsteten.
Derartige Widerstandsaktionen in ländlichen Gebieten Chinas werden seit den 1990er Jahren immer häufiger. Es handelt sich um ein völlig neues Phänomen in der Geschichte der Volksrepublik. Selbst in Zeiten großer Not wie etwa während des „Großen Sprungs vorwärts“ (1958-1962) war offener Widerstand äußerst selten. Die wichtigsten Unruheherde befinden sich heute in Hunan, Hubei und Jiangxi – genau in den Provinzen, wo auch die von der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) geführten Bauernbewegungen im letzten Jahrhundert am stärksten waren. Meine Forschungsarbeit konzentriert sich vor allem auf Hunan in Zentralchina, wo es verbreitet zu Widerstandsaktionen kam – in zwei Fällen unter Beteiligung von mehr als 10.000 BäuerInnen!

Allen diesen Aktionen ist einiges gemeinsam. Erstens sind die Gründe für den Protest offensichtlich. Einmal kommt es bei der Steuereintreibung zu Gewaltanwendung und Todesfällen, dann beklagen sich BäuerInnen bei übergeordneten Behörden über angeblich überhöhte Steuern und Abgaben, was zu Konflikten mit der lokalen Verwaltung führt. In einigen Fällen sind Unregelmäßigkeiten bei lokalen Wahlen der Anlass, und in wieder anderen setzen sich BäuerInnen gegen korrupte lokale Beamte zur Wehr. Zweitens nimmt der Organisationsgrad zu. Einige wenige Menschen, die sich ihrer Rechte bewusst sind, suchen Gleichgesinnte. Sie verbreiten ihre Ansichten, indem sie Partei- und Regierungsdokumente bekannt machen, die eine Entlastung der BäuerInnen befürworten. Sobald sie über eine Massenbasis verfügen und ein gewisser Organisationsgrad besteht, organisieren sie Massenaktivitäten in Reaktion auf einen spezifischen Vorfall, der als Zündfunken dient.
Diese Organisationen nennen sich etwa „Gruppe/Komitee zur Senkung der Belastung“ oder „Gruppe zur Überwachung der Senkung der Belastung“. Unterlagen über diese Gruppen sind kaum zu finden. Die meisten stützen sich auf Mundpropaganda und verbieten alle schriftlichen Aufzeichnungen. Sie übertragen Mitgliedern auch keine bestimmten Positionen und achten insbesondere darauf, keine formellen AnführerInnen zu ernennen. Und doch ist eine neue Generation von sehr populären Führungsfiguren im Entstehen. Sie sind in der Regel 30 bis 45, verfügen über mittlere oder höhere Schulbildung und stammen aus besser gestellten Familien. Sie sind mehrheitlich frühere Soldaten oder haben fern von der Heimat gearbeitet. Manche sind Parteimitglieder oder Gemeindefunktionäre.

Die Intensität des Widerstands nimmt stetig zu, mit einer Tendenz zu mehr Gewalt. Anfang der 1990er Jahre protestierten BäuerInnen hauptsächlich durch gemeinsam unterzeichnete Briefe oder die Entsendung von Delegationen zu übergeordneten Behörden. Nach 1995 begannen die Demonstrationen, gegen die ab und zu die Armee eingesetzt wurde. In Ningxiang nahe der Provinzhauptstadt von Hunan hatten lokale AktivistInnen eine Massendemonstration von BäuerInnen „für die Senkung der Belastung und gegen die Korruption“ im Viertel der Stadtverwaltung organisiert. Die Verwaltung mobilisierte mehr als 1.000 Polizisten und ließ eine Straßensperre errichten. Nachdem die Polizei Tränengas eingesetzt hatte, kam es zu gewaltsamen Zusammenstößen mit Toten und Verletzten.
Widerstand ist auch ansteckend: Nach Zusammenstößen zwischen Funktionären und BäuerInnen in Qidong 1996 waren die übergeordneten Behörden gezwungen, den BäuerInnen die eingehobenen Sonderbildungssteuern zurückzuzahlen. Die Nachricht vom Erfolg in Qidong verbreitete sich rasch und löste gewaltsame Zwischenfälle unter Beteiligung tausender BäuerInnen aus. Fünf Partei- und Verwaltungsbüros auf Gemeindeebene wurden angegriffen, insgesamt 79 Funktionäre bzw. deren Wohnungen wurden Ziel des Volkszorns. Tatsächlich standen die Probleme der chinesischen Landbevölkerung im 20. Jahrhundert lange im Zentrum. Sowohl die Bewegung des ländlichen Wiederaufbaus unter der nationalistischen Regierung in den 1920er und 1930er Jahren als auch die Bauernrevolution unter Führung der Kommunisten hatten sich ihre Lösung an die Fahnen geheftet. Doch nach der Machtergreifung der KPCh rückten ihre Probleme in den Hintergrund, sogar in der Zeit der „Drei Jahre der Naturkatastrophen“, wie die Hungersnöte nach dem Großen Sprung vorwärts schönfärberisch bezeichnet werden.

Wirkliche Aufmerksamkeit wurde den Bauernproblemen erst in den 1980er Jahren zuteil, nachdem die mittlerweile vollzogenen Landreformen dafür gesorgt hatten, dass die Menschen am Land wenigstens genug zu essen hatten. Hauptgrund ist meiner Meinung nach, dass sich damals in den ländlichen Gebieten eine ernsthafte politische Krise abzeichnete. Die relative Armut der Landbevölkerung nahm zu, während sich der Staat, die regionalen Regierungen, die lokalen Verwaltungen in ländlichen Gebieten, deren Funktionäre und die BäuerInnen selbst zu eigenständigen Gruppen mit widersprüchlichen Interessen entwickelten, was nun zum Vorschein kam.
Am deutlichsten zeigte sich das an der zunehmenden Belastung der BäuerInnen durch Steuern und Abgaben. Seit den 1990er Jahren gab es sowohl auf Bezirks- wie Gemeindeebene Budgetprobleme, die letztlich über verschiedene Steuern und Abgaben auf Kosten der BäuerInnen gelöst wurden. Ein anderer Faktor ist die generelle Schwächung des Staates. Um mehr Kontrolle über die ländliche Gesellschaft ausüben zu können, hatte der Staat alles Mögliche unternommen, um die Macht der Verwaltung in den ländlichen Gebieten zu erweitern. Dabei wurde eine übertriebene Anzahl an Beamtenposten auf Gemeindeebene geschaffen, für deren Kosten der Staat jedoch keine Verantwortung übernahm. Doch ein aufgeblähter Machtapparat wird auch den Grad der Ausplünderung erhöhen, um die Mittel für seinen Unterhalt zu beschaffen. BäuerInnen verfügen über keine Basisorganisationen und politische Vertretungen, und es gibt praktisch keine sinnvollen formellen Ebenen der Vermittlung zwischen BäuerInnen und der Regierung. An ihrer Stelle sind nun informelle Organisationen entstanden. Dazu gehören Selbstverteidigungsverbände in Gebieten, wo die öffentliche Ordnung zusammenbricht, landwirtschaftliche Vereinigungen auf Basis gegenseitiger Hilfe und Klanorganisationen. Am zahlreichsten sind Geheimgesellschaften.
Die Opposition gegen das System hat ihre eigene Ideologie entwickelt: BäuerInnen werden allgemein als Opfer einer langfristigen, systematischen Ausbeutung gesehen, was sich in Begriffen wie „Bürger zweiter Klasse“ und „neue Sklaverei“ ausdrückt.

Die von Intellektuellen vorgeschlagenen Lösungen befürworten mehrheitlich eine „Behandlung der BäuerInnen als BürgerInnen“, d.h. eine Gleichbehandlung mit StädterInnen. Auf den ersten Blick ist das korrekt, da in China tatsächlich eine Polarisierung zwischen Stadt und Land existiert. Aber die spärlichen Sozialleistungen, die die breite arbeitende Bevölkerung in den Städten einmal bezog, wurden bereits seit langem „wegreformiert“: BürgerInnenrechte gibt es keine mehr, bloß Vorrechte einer kleinen privilegierten Minderheit.
Außerdem sind AkademikerInnen nach wie in der Haltung einer intellektuellen Elite gefangen, die sich als Führerin der Gesellschaft versteht. In ihren Konzepten sind BäuerInnen weiterhin keine eigenständigen Akteure. Die BäuerInnen sollten für sich selbst sprechen können. Vorrangig wäre die Einrichtung einer politischen Vertretung von BäuerInnen. Das bedeutet ihre Mobilisierung, den Aufbau echter BäuerInnenorganisationen und die Unterstützung von Kräften auf dem Land, die fähig sind, wirksam gegen etablierte Interessen zu kämpfen.

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AutorenInfo:
Dr. Yu Jianrong ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Zentrums für ländliche Entwicklung an der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften und wird der „Neuen Linken“ in China zugeordnet. Eine längere Fassung dieses Artikels erschien in der Publikation „China Development Brief“ (im Web: www.chinadevelopmentbrief.org).

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