Vom Mauerfall zur Festung Europa

Von Werner Hörtner · · 2009/05

1989-1998: Südwind erlebt seine zweite Dekade. Das Ende des Kalten Krieges führt nicht zu der erhofften Wende hin zu Frieden und Entwicklung. Im Gegenteil: Die Schere zwischen Arm und Reich klafft immer weiter auseinander. Die Themen für entwicklungspolitische Inlandsarbeit werden breiter, der Aktionsradius größer.

Das Jahr 1989 war in Europa das große Jahr der Wende. Im Juni gewann in Polen erstmals ein Nichtkommunist die Präsidentschaftswahlen, im September fiel in Ungarn der „Eiserne Vorhang“ und am 9. November erließ das Politbüro in der DDR eine neue Reiseregelung, die de facto das Ende jener Mauer bedeutete, die jahrzehntelang zwischen beiden Teilen Deutschlands eine tödliche Grenze gezogen hatte. Daraus entstand eine Dynamik, die die USA weltweit als Argument zur Bekämpfung fortschrittlicher (d.h. „kommunistischer“) politischer Bewegungen herangezogen hatte: die „Domino-Theorie“. Wenn ein Staat „fällt“, d. h. aus dem Lager der „freien Welt“ ausbricht, so werden über kurz oder lang auch die Nachbarstaaten in den kommunistischen Block wechseln. In Europa fand diese von Präsident Eisenhower 1954 aufgestellte These nun erstmals ihre Bestätigung, doch im umgekehrten Sinn. Einer nach dem anderen kehrten die Staaten des realen Sozialismus auf friedlichem Weg zur parlamentarischen Demokratie zurück.

Rückblickend hat man den Eindruck, dass diese „Wende“ in Europa einschließlich Sowjetunion in entwicklungspolitischen Kreisen nicht richtig eingeschätzt wurde. In der Dritte Welt-Bewegung, der gerade die Zweite Welt abhanden gekommen war, herrschte Freude, dass in Chile Ende 1989 eine grausame Diktatur abgewählt wurde, dass Nelson Mandela im Februar 1990 nach 27-jähriger Haft freigelassen wurde, und man bejubelte die Worte des späteren Nobelpreisträgers: „Ich halte am Ideal einer demokratischen und freien Gesellschaft fest, in der alle Menschen harmonisch und mit gleichen Rechten zusammenleben.“

Die beträchtliche Reduktion der Rüstungsausgaben durch das Ende des Kalten Krieges ließen das Schlagwort von der „Friedensdividende“ aufblühen. Die entwicklungspolitische Szene begeisterte sich an der Vorstellung, die Regierungen würden die durch verringerte Militärausgaben eingesparten Budgetmittel in eine soziale nachhaltige Entwicklung investieren. Doch nichts dergleichen geschah. Die Weltbank veröffentlichte 1989 ihren Weltentwicklungsbericht „Finanzsysteme und Entwicklung“, in dem sie die völlige Liberalisierung der Finanzmärkte propagierte, und ein Jahr später drückte der so genannte Washington-Konsens endgültig der Entwicklungspolitik die neoliberalen Grundprinzipien auf: Liberalisierung von Handel und Finanzen, Preisregulierung über den Markt und Privatisierung als Mittel der „Armutsbekämpfung“. Zwanzig Jahre später hat sich diese Politik der Armutsbekämpfung eindeutig als verfehlt herausgestellt.

Bewusstseinsbildung über Kampagnen war von Anfang an ein wichtiges Element der Arbeit des Österreichischen Informationsdiensts für Entwicklungspolitik (ÖIE), der im Jahr 1997 in Südwind Entwicklungspolitik umbenannt wurde. Im Februar 1990 startete die Kampagne „Stimmen für den Regenwald“. Im Mittelpunkt stand der Kampf gegen die Zerstörung des Lebensraumes Regenwald und die Auswirkungen auf das Weltklima – jene katastrophalen Folgen, die heute bereits zum Allgemeinwissen jedes Volksschulkindes gehören. Der Ende der 1980er Jahre sich rasant verbreitende Widerstand gegen die Regenwaldzerstörung führte zumindest indirekt zur großen Umweltkonferenz der Vereinten Nationen von Rio 1992, an der zum ersten Mal auch VertreterInnen von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) in der österreichischen Regierungsdelegation teilnehmen konnten.

Im September 1989 hatten UmweltaktivistInnen der UN-Generalversammlung eine von über drei Millionen Menschen unterzeichnete Petition überreicht, in der eine Sonderkonferenz zum Thema gefordert wurde. 1991 übergab der ÖIE 60.000 „Stimmen für den Regenwald“, die sich für eine umweltfreundliche, nachhaltige Entwicklung aussprachen, an die Bundesregierung.
Brigid Weinzinger, die für den ÖIE – zusammen mit zwei weiteren NGO-Vertretern – an der Konferenz von Rio, der größten der Menschheitsgeschichte, teilgenommen hat, nannte den Mammutgipfel nachher „das Fest der leeren Worte“. „Den Industrieländern ist es gelungen, ihre Wirtschaftsinteressen gekonnt auszuklammern oder erfolgreich zu verteidigen.“

Auch Einmischung gehörte und gehört nach dem Selbstverständnis des ÖIE/Südwind zu seinen Aufgaben. Einmischung, wenn Unrecht geschieht. Etwa als Österreichs Nationalrat genau an jenem 17. Jänner 1991, als mit der Operation „Wüstensturm“ der 2. Golfkrieg begann, das Kriegsmaterialgesetz liberalisierte, um Waffenlieferungen in das Krisengebiet am Golf zu ermöglichen. „Mit Bestürzung nehmen wir das Verhalten der Republik Österreich in der Golfkrise zur Kenntnis“, schrieb der ÖIE an alle Abgeordneten. „Wir fordern Sie eindringlich auf, der Gesetzesänderung nicht zuzustimmen.“ Der Brief wurde zwar im Parlament während der Debatte verlesen, doch die Gesetzesänderung wurde durchgezogen. Nur die Grünen und einige Abgeordnete der SPÖ und der FPÖ stimmten dagegen.

Immer wieder war das Verhalten des offiziellen Österreich Thema der Informations- und Bildungsarbeit. Im Herbst 1991 wurde die Kampagne „Welt-Um-Welt“ gestartet. Stand bei der Regenwald-Kampagne die Naturzerstörung und die unrühmliche Rolle der Industrieländer, auch Österreichs, bei diesem Prozess im Mittelpunkt, so lag nunmehr der Fokus auf den Zusammenhängen zwischen nördlicher Konsumgesellschaft und den Überlebensproblemen im Süden. Beim Thema Umwelt wurden die Menschen als Betroffene und AkteurInnen in den Mittelpunkt gestellt. Letzteres in dem Sinn, dass der beste Umweltschutz durch eine partizipative Demokratie, durch eine Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an den Entscheidungsprozessen gewährleistet sei. „Wo moralisches und legales Recht sich nicht decken, kann diese Einmischung auch illegale Maßnahmen bedeuten“, wagte sich Kampagnenkoordinatorin Weinzinger vor.

Die Bildungsarbeit des ÖIE und im Besonderen die Kampagnen wurden ständig publizistisch von der Zeitschrift Südwind begleitet. Gemäß ihrem Motto „Magazin für internationale Politik, Kultur und Entwicklung“ wurde und wird darin auch dem Weltgeschehen großes Augenmerk geschenkt. Da freute es die Redaktion immer wieder, wenn im Magazin vorgestellte Persönlichkeiten später internationale Würdigung erfuhren. Etwa die damals einer breiten Öffentlichkeit noch völlig unbekannte indigene Menschenrechtsaktivistin Rigoberta Menchú aus Guatemala, die vom Südwind 1990 interviewt, ein Jahr später nochmals vorgestellt wurde – und dann im Oktober 1992 den Friedensnobelpreis erhielt.

Die stufenweise Verschlechterung der Fremden- und Asylrechtsgesetzgebung unter den Koalitionsregierungen nach 1990 führte dazu, dass dieses Thema in der Arbeit des ÖIE an Gewicht gewann. „Die Festung Europa“ wurde zügig aufgebaut, an ihren Grenzen kamen Zigtausende Menschen auf der Flucht vor Elend und Perspektivlosigkeit in ihrer Heimat ums Leben. Wobei es auch hier nicht nur um das Aufzeigen von Missständen, um das Anklagen der oft unmenschlichen Politik gegenüber Flüchtlingen und AsylwerberInnen ging, sondern um das Erkennen der Hintergründe eines Alltagsrassismus, der immer mehr zu einem Verhaltensmuster eines großen Teils der Bevölkerung wurde. Die große UN-Menschenrechtskonferenz in Wien Mitte 1993 besiegelte sozusagen die Verpflichtung, sich in Hinkunft noch mehr für die Rechte der Menschen auf eine friedliche, gerechte, harmonische Gegenwart und Zukunft einzusetzen.

Dem Anspruch einer breiten entwicklungspolitischen Informationsarbeit dienten auch die gesamtösterreichischen Entwicklungskonferenzen, die der ÖIE in Zusammenarbeit mit dem Staatssekretariat für Entwicklungszusammenarbeit durchführte. Im Oktober 1991 fand die erste dieser Konferenzen in Eisenstadt statt. 120 Personen hatte man erwartet, 500 waren gekommen. Das hochgesteckte Ziel war, die Entwicklungspolitik als gesamtgesellschaftliches Anliegen durchzusetzen. Helmuth Hartmeyer, damals Geschäftsführer des ÖIE: „Eine Verbesserung der derzeitigen Politik wird nur möglich sein, wenn wir alle Kräfte und Gruppierungen einbeziehen, um gemeinsam aus dem Schatten herauszutreten und Entwicklungspolitik zu einem unüberhörbaren Thema in Österreich zu machen.“

Ende November 1992 diskutierten in Linz bei der zweiten dieser Tagungen wieder knapp 500 Personen über Auswege aus der Weltunordnung; die indische Physikerin Vandana Shiva, renommierte Vorkämpferin eines globalen Widerstandes gegen die Umweltzerstörung, referierte eindrucksvoll über die Grundprobleme der weltweiten Fehlentwicklung. Eine weitere Konferenz im Juni 1994 in Wien beschäftigte sich vorwiegend mit einer Zwischenbilanz nach vier Jahrzehnten Entwicklungszusammenarbeit und Nord-Süd-Politik.

Der EU-Beitritt Österreichs 1995 fand einen starken und nicht eben erfreulichen Widerhall in der österreichischen Entwicklungspolitik und -zusammenarbeit. Die heimischen Töpfe schrumpften; die entwicklungspolitischen Organisationen und Initiativen, die um staatliche Kofinanzierung ansuchten, mussten sich nunmehr den Standardsatz anhören: „Geht’s doch nach Brüssel!“

„Von einer großen Öffentlichkeit noch unbemerkt, ist im Gefolge des EU-Beitritts und des Sparbudgets die gesamte entwicklungspolitische Szene von der Versenkung in die Bedeutungslosigkeit bedroht“, warnte damals Martin Jäggle, Gründungsmitglied des ÖIE, externer Berater des Südwind-Magazins und heute Dekan der Katholischen Fakultät in Wien. Die Mittel für bilaterale Entwicklungszusammenarbeit sanken von 6,117 Milliarden Schilling im Jahr 1994 auf 3,735 Mrd. im Jahr 1997.

Im Mai 1995 brach der Unmut über die österreichische Entwicklungspolitik offen aus. Unter dem Motto „Weltsicht entwickeln!“ organisierten engagierte Personen und Bewegungen zahlreiche widerständische Aktionen, u.a. einen Protesttag im Zentrum von Wien, an dem auch der brasilianische Befreiungstheologe Bischof Erwin Kräutler und der Kabarettist Josef Hader teilnahmen. Durch intensive Medienarbeit wurde in diesen Wochen so viel zu entwicklungspolitischen Themen und die österreichische Entwicklungshilfe publiziert wie nie zuvor.

Mit einem Artikel im Südwind-Magazin vom Oktober 1996 über die Arbeitsbedingungen in den Weltmarktfabriken Zentralamerikas wurde in Österreich erstmals auf eine Kampagne aufmerksam gemacht, die einige Jahre zuvor in den Niederlanden entstanden war: die Clean Clothes Kampagne (CCK). Zum Jahresende wurde von einigen Solidaritätsinitiativen und Einzelpersonen begonnen, auch in Österreich eine Ländergruppe aufzubauen. Seither ist Südwind untrennbar mit dieser internationalen Kampagne zur Verbesserung der Produktionsbedingungen in der Textil- und Bekleidungsindustrie verbunden und seit Jahren Koordinierungsstelle der österreichischen CCK. Durch kontinuierliche Medienarbeit gelang es, dem Thema Arbeitsbedingungen in der Textil- und Sportbekleidungsindustrie in den Weltmarktfabriken in China, Bangladesch, El Salvador usw. auch in den Massenmedien zu einer häufigen Präsenz zu verhelfen.

Ende der 1990er Jahre manifestierte sich weltweit eine Entwicklung, die im Verborgenen schon seit einiger Zeit gebrodelt hatte: die Kritik an einem ungezähmten Kapitalismus als Gefahr für Mensch und Umwelt, an den Auswüchsen einer Welthandelspolitik, die die globale Ökonomie primär den wirtschaftlichen Interessen des Nordens unterordnet, und schließlich die Kritik an einem völlig deregulierten Finanzmarkt. Kurz: das Jahrzehnt der Globalisierungskritik bricht an, deren Berechtigung sich heute auf fatale Weise erwiesen hat.

Im September 1998 entstand in Frankreich das globalisierungskritische Netzwerk Attac und hielt im Juni des darauffolgenden Jahres in Paris ein erstes internationales Treffen ab. Das Südwind-Magazin begleitete mit seiner Berichterstattung von Anfang an diese Entwicklung. Im April 1999 war das Schwerpunktthema der Zeitschrift den Finanzmärkten gewidmet, im November desselben Jahres dem Welthandel und der Rolle der Welthandelsorganisation WTO. Im selben Monat kam es in Seattle in den USA zum großen Eklat: Vor dem Hintergrund von Massenprotesten und Ausnahmezustand platzte die WTO-Ministerkonferenz; die globalisierungskritische Bewegung war damit als ernstzunehmender Akteur auf die Bühne der Weltpolitik getreten. Und seither versteht sich auch Südwind als ein Element dieser Bewegung.

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