Warten auf Erholung

Von Redaktion · · 2012/11

Wie schaut die die Weltwirtschaft nach der großen Rezession aus, wenn die Erholung nicht stattfindet? Ist der verbreitete Optimismus angebracht?
Eine Analyse von Immanuel Wallerstein.

Die meisten PolitikerInnen und ExpertInnen haben ein ausgeprägtes Eigeninteresse daran, bessere Zeiten zu versprechen, vorausgesetzt man folgt ihrem Rat. Ob sich die Diskussion nun auf die Arbeitslosigkeit in den Vereinigten Staaten konzentriert oder auf die eskalierenden Kosten der Staatsverschuldung in Europa oder die plötzlich abnehmenden Wachstumsraten in China, Indien und Brasilien, der mittelfristige Optimismus bleibt an der Tagesordnung. Gelegentlich bricht sich etwas Ehrlichkeit Bahn. Am 7. August schrieb Andrew Ross Sorkin einen Artikel in der New York Times, in dem er „eine direktere Erklärung“ dafür anbot, weshalb die Investoren vom Aktienmarkt verschwunden sind: dieser sei ein Verlustgeschäft. Eine ganze Generation von Investoren habe da kein Geld gemacht.

Wie kann es angesichts all der Beobachtungen über die unglaublichen Geldmengen, die einige wenige angehäuft haben, sein, dass der Aktienmarkt ein Verlustgeschäft ist? Die Berechnungen unterscheiden sich, aber im Allgemeinen lagen die Gewinne aus Aktien während des letzten Jahrhunderts über denen aus Anleihen, vorausgesetzt natürlich, man hielt die Aktien. Was weniger bekannt ist: Dasselbe hundert Jahre anhaltende Niveau der Profite aus Aktien war mehr oder weniger doppelt so hoch wie der Anstieg des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Im Endeffekt hat sich ein großer Teil dieses wunderbaren Gewinns aus Aktien in der Periode seit den frühen 1970er Jahren ergeben – eine Ära, die je nachdem als Globalisierung, Neoliberalismus und/oder Finanzialisierung bezeichnet wurde.

Doch was passierte tatsächlich in dieser Periode? Wir sollten mit der Feststellung beginnen, dass die Post-1970er-Periode auf die Periode der (bei weitem) größten Expansion der Produktion, der Produktivität und der globalen Surplus-Produktion in der Geschichte der kapitalistischen Weltwirtschaft folgte. Denen, die in dieser Periode Aktien hielten, ging es in der Tat sehr gut – ebenso wie den ProduzentInnen im Allgemeinen, den LohnarbeiterInnen und den Regierungen, was ihre Einkünfte anging. Es schien einen mächtigen Wiederaufschwung des Kapitalismus zu geben, nach der Großen Depression und dem weithin zerstörerischen Zweiten Weltkrieg.

Nur können solche guten Zeiten nicht auf ewig andauern. Zum einen beruhte die Expansion der Weltwirtschaft auf einigen Quasi-Monopolen in den so genannten führenden Industrien, die nur so lange andauerten, bis sie von Konkurrenten unterminiert wurden, die schließlich ebenfalls ihren Weg auf den Weltmarkt fanden. Mehr Konkurrenz drückt natürlich die Preise, aber im Gegenzug auch die Profite.
Die Weltwirtschaft trat für die nächsten 30 bis 40 Jahre (1970-2012+) in eine lange Stagnation ein. Diese Periode war gekennzeichnet durch wachsende Verschuldung (von mehr oder weniger allen), wachsende weltweite Arbeitslosigkeit und einen zunehmenden Rückzug vieler, vielleicht sogar der meisten Investoren von den Aktienmärkten und die Zuflucht in die Sicherheit der Anleihemärkte, insbesondere die US-Treasury Bonds (US-Staatsanleihen).

US-Treasury Bonds waren natürlich sicher oder sicherer, aber nicht sehr profitabel, außer für eine immer kleinere Gruppe von Banken und Hedgefonds, die ihre Operationen weltweit manipulierten, ohne irgendeinen Wert dabei zu schaffen. So kamen wir dahin, wo wir heute sind: in eine Welt, die unglaublich polarisiert ist, mit Reallöhnen, die deutlich unter denen der 1970er Jahre liegen (aber immer noch über ihrem Tiefpunkt in den 1940er Jahren), und Regierungseinkünften, die ebenfalls unten sind. Eine Schuldenkrise nach der anderen ließ einen Teil des Weltsystems nach dem anderen verarmen. Und im Ergebnis trocknete das, was wir effektive Nachfrage nennen, weltweit aus.

Die sogenannten neu-aufstrebenden Länder scheinen erst jetzt mehr und mehr in Schwierigkeiten zu geraten. Erst kommt Japan, dann Südkorea und Taiwan, dann Südeuropa und Irland, dann die BRICs (vor allem China, Indien und Brasilien), dann die Türkei und Indonesien, und jetzt (wie einige behaupten) verschiedene afrikanische Staaten. Doch das Problem ist, dass die meisten von diesen lediglich zeitweilig eine positive Entwicklung durchlaufen haben und jetzt ihrerseits in „Schwierigkeiten“ geraten.

Dieser Beitrag erscheint in Zusammenarbeit mit dem Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E). Die ungekürzte Version des Textes ist im W&E am 9. September erschienen. www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org

Das Kerndilemma ist einer der grundlegenden Widersprüche des Systems. Was das Einkommen der effizientesten Spieler kurzfristig maximiert (wachsende Profitmargen), drückt langfristig die Käufer nieder. Wenn mehr und mehr Menschen und Zonen voll in die Weltwirtschaft integriert werden, bleibt immer weniger Spielraum für „Anpassungen“ oder „Erneuerungen“ und immer weniger Wahlmöglichkeiten für Investoren, KonsumentInnen und Regierungen.

Man beachte, dass die Gewinne über das letzte Jahrhundert doppelt so hoch waren wie der Zuwachs des BIP. Kann sich dies ein zweites Mal wiederholen? Es ist schwer vorstellbar – nicht nur für mich, sondern auch für die meisten potenziellen Investoren auf den Märkten. Das schafft die Engpässe und Zwänge, die wir täglich in den USA, Europa und bald auch in den Schwellenländern beobachten können. Das Niveau der Schulden ist bei weitem zu hoch, um durchhaltbar zu sein. So gibt es auf der anderen Seite einen machtvollen politischen Ruf nach „Austerität“. Doch Austerität bedeutet im Endeffekt die Kürzung bestehender Leistungen (wie Renten, Gesundheits- und Bildungsausgaben) und auch eine Beschneidung der Rolle der Regierungen, die diese Leistungen garantiert haben. Und wenn die meisten Menschen weniger haben, geben sie offensichtlich weniger aus, und die Verkäufer finden weniger Käufer, d. h. weniger effektive Nachfrage. Somit wird die Produktion immer weniger profitabel (auch die Gewinne aus Aktien) und die Regierungen immer ärmer.

Es ist ein Teufelskreis, aus dem es keinen leichten oder akzeptablen Ausweg gibt. Auf jeden Fall ist es etwas, das einige von uns als strukturelle Krise der kapitalistischen Weltwirtschaft bezeichnet haben. Diese führt zu chaotischen (und ziemlich wilden Fluktuationen), da das System am Scheideweg steht und wir uns in einem langen und heftigen Kampf darum befinden, welche Art von System auf das jetzige folgen sollte.

Immanuel Wallerstein ist der vielleicht bekannteste Weltsystem-Theoretiker. Er lehrt am Department of Sociology an der Yale University.

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