Weitermachen, trotz Erschütterung

Von Ahmad Ibesh · · 2023/Mai-Jun
Gedanken von Welt

Nach dem Erdbeben müssen die Menschen in Syrien lernen, mit dieser neuen Gefahr zu leben, und auch diejenigen, die schon längst von dort weg sind.

Am 6. Februar um sieben Uhr in der Früh rief mich ein Freund aus Syrien an und sagte, dass es meinen Schwestern und Brüdern gut gehe. Ich war verschlafen und fragte, warum. Da erzählte er mir, dass es ein starkes Erdbeben in Syrien und der Türkei gegeben hatte.

Nach dem ersten Schock schaute ich mir Bilder im Internet an und rief meine Geschwister durch. Alle waren unverletzt. Niemand war in den Gegenden, die am stärksten gebebt hatten. Meine Schwester lebt mit ihrem Mann und ihren Kindern in Aleppo. Das Beben hat Risse in den Wänden ihrer Wohnung hinterlassen. Vor Angst verbrachten sie viele Tage im Laderaum ihres Lieferwagens.

Dann kam ein Ingenieur von der Stadtverwaltung und sagte, dass ihr Haus einsturzgefährdet sei und sie da nicht mehr wohnen könnten. Er meinte, die Familie solle in eine andere Wohnung ziehen: in ein Dorf, das zwei Autostunden von Aleppo entfernt ist, wo es keine Schule oder andere Infrastruktur gibt. Nur leerstehende Häuser und Wohnungen. Es waren die von Menschen, die wegen des Krieges geflüchtet waren.

Meine Schwester und ihr Mann beschlossen, in ihrer einsturzgefährdeten Wohnung zu bleiben, damit ihre Kinder weiter die Schule besuchen und der Mann seiner Arbeit in Aleppo nachgehen konnte. Sie schrieb mir: „Im Krieg hatten wir das Gefühl, dass uns unsere vier Wände und das Dach vor den Bomben Schutz bieten würden. Jetzt haben wir ständig Angst, dass es uns beim nächsten Beben auf den Kopf fällt.“

Dennoch: Die Menschen lernen, auch mit diesem Risiko zu leben, sie haben keine Wahl. Bei kleineren Nachbeben lachen die Kinder jetzt. Sie passen sich an.

Auch ich und andere, die nach Österreich gekommen sind, müssen sich Strategien suchen, um damit umzugehen, dass unsere Familien und Freund:innen, die in Syrien sind, ständig Gefahren ausgesetzt sind. Wir können nicht permanent in die Heimat schielen und online verfolgen, was dort passiert. Wir können nicht zwei Leben auf einmal leben. Das ist nicht leicht, solange die Menschen in Syrien immer wieder von neuem erschüttert werden.

Ahmad Ibesh, 29, kommt aus Aleppo in Syrien. Als er mit 19 in die Armee sollte, floh er in die Türkei und kam 2015 nach Österreich. Seither lebt er u. a. als Schneider von seinem Label „Herzgenäht“ in Kärnten.

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