Wendezeit

Von Walter Wotzel · ·

Die drohende Klimakatastrophe und die mit gesellschaftlichen Kollateralschäden überstandene Coronapandemie lassen Kurswechsel auf nationaler wie auch auf globaler Ebene als dringend erforderlich erscheinen. Ein Gastbeitrag zur Suche nach Utopien.

Die Politik aber vermittelt nicht den Eindruck, einen Kurswechsel anzustreben, im Gegenteil: sie begrüßt erleichtert Meldungen, wonach das Wirtschaftswachstum wieder Fahrt aufnehmen wird, vielleicht auch, weil sie hofft, dadurch nichts gegen die extrem unterschiedliche Verteilung von Einkommen und Vermögen und damit Lebenschancen unternehmen zu müssen.

Doch ewiges Wachstum gibt es in einer endlichen Welt nicht. Wenn Politiker:innen oder Ökonom:innen von Wachstum reden, meinen sie meist die Entwicklung des Bruttoinlandsproduktes (BIP) als Gesamtwert aller Waren und Dienstleistungen einer Volkswirtschaft in einer Periode (Vorleistungen abgezogen). Das BIP aber stellt ein zunehmend umstrittenes Maß für Wohlstand dar. Denn es ist höchst zweifelhaft, ob man die Reparatur vorangegangener Schäden als Wohlstandsgewinn betrachten darf (z.B. Reparaturkosten am Auto oder Spitalsbehandlungen nach Verkehrsunfällen, Hilfemaßnahmen nach Flutkatastrophen oder Ernteausfällen wegen Dürre, …).

Die Coronapandemie hat z.B. beträchtliche Wachstumsimpulse bewirkt. Aber war sie tatsächlich so positiv? Denken wir bei Entsorgungskosten (Stichworte Plastikflut und Wegwerfkleidung) an etwas Positives? Wenn dagegen Wald geschlägert und das Holz verkauft wird, geht das ebenso als Wohlstandsgewinn in die Rechnung ein wie die für die Ortszentren problematische Erweiterung von Parkplätzen beim Supermarkt am Ortsrand. Die für den Wohlstand wichtige Erziehungs- und Pflegearbeit bleibt in dem Ausmaß unberücksichtigt, in dem sie innerhalb der Familien meist unentgeltlich erfolgt.

Und schließlich sagt Wachstum in obigem Sinn überhaupt nichts über die Verteilung des Wohlstandes. Da noch dazu die Länder des Globalen Nordens in ihrem Ressourcenverbrauch implizit ausbeuterisch sind, indem unsere Lebensweise weltweit nicht möglich wäre (wir haben nur die eine Erde zur Verfügung), ist Wachstum im beschriebenen Sinn kein brauchbarer Maßstab für künftige Entscheidungen.

Transformationsforschung

Entscheidungen aber sind dringend notwendig. Die drohende Klimakatastrophe weist daraufhin, dass es eines möglichst raschen Kurswechsels in Richtung Nachhaltigkeit bedarf. Bei der Diagnose „So kann es nicht weitergehen“ mag es noch ziemlich große Übereinstimmung geben. Doch bei der Frage „Wie soll es konkret weitergehen“ herrscht große Ratlosigkeit. Denn obwohl die „Grenzen des Wachstums“ seit Mitte der 1970er Jahre des vergangenen Jahrhunderts bekannt sind, hat es die Politik weltweit verabsäumt, eine Transformationsforschung zu initiieren: Wie schaffen wir es, vom ressourcenverschwendenden linearen Wachstum zu einer auf Nachhaltigkeit basierenden Wirtschaftsweise zu gelangen? Wie schaffen wir es, diesen Wandel so zu gestalten, dass alle davon profitieren, auch jene rund 20 Prozent der Bevölkerung, die derzeit in Österreich unter der Armutsgrenze leben? Und wie schaffen wir es, dass das „gute Leben für alle“ in einem weiteren Schritt letztlich auch den Menschen im globalen Süden zugute kommt, damit sich nicht mehr so viele gezwungen sehen, sich unter Lebensgefahr in die Länder des Globalen Nordens zu begeben?

Eine in solchem Sinn verstandene „Weltsozialpolitik“ sollten wir im Globalen Norden im gleichen Sinn als in unserem Eigeninteresse gelegen verstehen, wie die beginnende Sozialversicherungs­politik im Kontinental­europa des späten 19. Jahrhunderts dem Interesse der herrschenden Eliten an der Besänftigung der aufkommenden Arbeiterbewegungen diente.

Transformationsforschung aber findet derzeit nur vereinzelt und unkoordiniert statt. Es ist Aufgabe der Politik, ihre massive Ausweitung und ihre auch internationale Vernetzung zu fördern. Effizienz bei Energie und anderen Ressourcen, „mehr Qualität statt Quantität“, Kreislaufwirtschaft oder „Regionalität statt globaler Supermarkt“ sind dabei wichtige Stichworte. Wie kommt man davon weg, dass tendenziell immer weniger Menschen immer mehr arbeiten, aber immer weniger Zeit haben, die Früchte ihrer Arbeit auch zu genießen? Wie kann der Leistungsdruck im Beruf, aber auch im Privatleben so vermindert werden, dass psychische Erkrankungen wieder abnehmen?

Die Politik ist gefordert, in diesem Sinn etwas für eine bessere Verteilung der Arbeit zu unternehmen (Arbeitszeitverkürzung). Da viele junge Leute im Sinn einer besseren Work-Life-Balance bereit sind, weniger als Vollzeit zu arbeiten, sind wohl auch die Gewerkschaften gefordert, die Frage von Arbeitszeitverkürzung und Lohnausgleich flexibler zu handhaben als bisher.

Gutes Leben

Die Einsicht steigt, dass ein gutes Leben nicht mit einem ständigen Mehr an Gütern zu tun hat. Zur Transformationsforschung sollten auch Wege zur Stärkung des Selbstwertgefühls und der Resilienz zählen. Denn so gestärkt werden wir es leichter schaffen, den Verlockungen des „großen Glücks der großen Zahl“ zu widerstehen.

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