Wenn der Missbrauch zur Norm wird

Von Nina Katzemich · · 2011/02

Ehemalige EU-Kommissare dienen großen Wirtschaftsunternehmen in Brüssel als Türöffner, Entwicklungshilfegelder fließen in Treffen von Konzernen und Lobbygruppen: Ein Skandal, den die Öffentlichkeit nicht wahrnimmt.

Der EU-Indien-Gipfel im vergangenen Dezember war für PolitikerInnen aus Europa und Indien ein wichtiges Datum: Man erhoffte sich, endlich die Grundzüge für ein Freihandelsabkommen mit Indien festzulegen. Kein Zufall natürlich, dass parallel dazu auch ein großer Wirtschaftsgipfel tagte, auf dem sich zahlreiche an dem Abkommen interessierte indische und europäische Großkonzerne und Lobbygruppen trafen – unter anderem Supermarktgiganten wie Carrefour oder Metro, die hoffen, den indischen Markt zu erobern. Hier konnte man Absprachen untereinander treffen und sich dann gleich mit dem anwesenden politischen Führungspersonal absprechen, um das Abkommen im Sinne der Konzerne voranzubringen.

Was nach einer Idee indischer und europäischer Industrielobbygruppen klingt, wurde in Wirklichkeit aktiv von den zuständigen EU-Behörden mitgeplant. Und nicht nur das: Die EU-Kommission hat Millionen von Euro aus ihrem Entwicklungshilfefonds beigetragen, um dieses Treffen der Wirtschaftseliten zu unterstützen, und damit das Freihandelsabkommen im Sinne ihrer Handelspolitik – dem Fallen aller Handelsbarrieren ohne Rücksicht auf die Gegebenheiten in den Partnerländern – endlich zum Abschluss zu bringen. Politik absurd: Die EU-Kommission unterstützt das Treffen der Konzerneliten mit Geldern aus ihrem Entwicklungshilfefonds, während Bäuerinnen, Fischer und Kleinunternehmerinnen, die aufgrund des Abkommens um ihre Existenzen fürchten, draußen bleiben müssen.

Beispiele wie dieses stehen in der Politik der Europäischen Union auf der Tagesordnung. Seit Jahren beobachtet das Netzwerk ALTER-EU1), was einen großen Teil des Erfolgs europäischer (Groß-) Konzerne bei der Durchsetzung ihrer Interessen in Straßburg und Brüssel ausmacht: Die EU-Institutionen selbst garantieren ihnen privilegierte Zugänge und Sonderbehandlungen, allen voran die Europäische Kommission. Hinzu kommen weitere Faktoren, wie beispielsweise die klare Überlegenheit der großen Unternehmen und ihrer Lobbygruppen, was finanzielle und andere Ressourcen betrifft. Das Problem: Andere, gesamtgesellschaftlich relevante Interessen wie beispielsweise Umwelt- oder Verbraucherschutz geraten dabei immer wieder unter die Räder.

Das Zusammenwachsen eines starken europäischen Wirtschaftsraums war von Anfang an einer der Hauptaspekte eines geeinten Europa. Vielleicht ist damit zu erklären, warum die europäischen Unternehmen, vor allem die wichtigen Industrien und ihre Lobbygruppen, von Anfang an einen derartig privilegierten Zugang zur Politik, vor allem zur EU-Kommission, genossen haben. Die Gegenwart von hohen EU-Beamten auf – regelmäßig und in allen relevanten Branchen stattfindenden – Brüsseler Wirtschaftsgipfeln ist ebenso selbstverständlich wie Einzeltreffen und Frühwarnsysteme für Unternehmen, wenn eine neue, sie betreffende Richtlinie geplant wird. Keine politische Strategie wird ausgetüftelt, ohne vorher die europäischen Wirtschaftseliten nach ihrer Meinung zu fragen.

Die Kontakte zwischen Wirtschaft und Politik in Brüssel sind aber auch deshalb so gut, weil es engste Verflechtungen und Netzwerke untereinander gibt. Zahlreiche ehemalige EU-Kommissare sind zum Beispiel in den vergangenen Jahren in die Wirtschaft gewechselt, wo sie den Unternehmen, die sich dies leisten können, als Türöffner dienen. Aber auch hohe EU-BeamtInnen wechseln zahlreich in die europäische Lobbyszene, etwa 70 pro Jahr wechseln in die private Wirtschaft.

VertreterInnen der Wirtschaft können aber auch ganz direkt Einfluss auf die Inhalte von Richtlinien nehmen: Zum Beispiel über die Teilnahme in so genannten Expertengruppen. Etwa 1.000 solcher Gruppen beraten die Europäische Kommission. Die Kommissare können sie relativ frei zusammenstellen, um beim Entwurf einer neuen Richtlinie einen Querschnitt aller verschiedenen Sichtweisen zum jeweiligen Thema zu erhalten. Das Netzwerk ALTER-EU hat schon im Jahr 2008 in einer Untersuchung aufgezeigt, dass von den etwa 1.000 existierenden Expertengruppen in 64% der Fälle wirtschaftliche Interessen überrepräsentiert waren. Und bei der Deregulierung (und Re-Regulierung) der Finanzmärkte hat sich die Kommission sowohl vor, als auch während und nach der Finanzkrise fast ausschließlich von der Finanzindustrie beraten lassen und tut dies auch bis heute noch2. Die 19 Expertengruppen, die im Bereich der Finanzpolitik bei der Kommission angesiedelt sind, werden von Vertreterinnen privater Großbanken, Versicherungsriesen und einer großen Bandbreite verschiedener Finanzunternehmen klar dominiert. Der aktuell für die Finanzmärkte zuständige Kommissar Michel Barnier hat dies auch kürzlich zugegeben und Änderungen angekündigt – inwiefern es diese wirklich geben wird, bleibt abzuwarten.

Dass derartig viele WirtschaftsvertreterInnen in europäischen Beratungsgremien eine Rolle spielen dürfen, hat neben den privilegierten Zugängen noch einen weiteren Grund: Die Unternehmen können sich in ihren Vertretungen eine große Menge an Fachpersonal leisten – das in den Verwaltungseinheiten der EU-Institutionen knapp ist und in den Nichtregierungsorganisationen, die ebenfalls immer stärker in Brüssel Präsenz zeigen, noch knapper.

Ebenso sieht es auch mit dem Personal für die Lobbyarbeit aus, wie sich anhand von Zahlen belegen lässt: Insgesamt arbeiten geschätzt etwa 15.000 LobbyistInnen in Brüssel. Sie arbeiten zum Beispiel in den ca. 300 Unternehmensniederlassungen etwa 1.000 Lobbygruppen, ca.160 Lobbyberatungen oder über hundert große Kanzleien, von denen viele Lobbydienstleistungen anbieten. Laut einem Bericht des Europäischen Parlaments aus dem Jahr 2000 sind von all diesen Lobbyisten etwa 70% für die Wirtschaft tätig. Allein der mächtige Verband der Europäischen Chemischen Industrie „CEFIC“ hat 170 MitarbeiterInnen. Bei Gruppen, die man wohl als ihre „politischen Gegenspieler“ betrachten könnte, sieht es ganz anders aus. Die Greenpeace European Unit muss mit 15 MitarbeiterInnen auskommen, Friends of the Earth Europe, immerhin der Dachverband nationaler europäischer Umweltorganisationen, mit 20.

Dieser Vorsprung an finanziellen und personellen Ressourcen kommt den Unternehmen und ihren Lobbygruppen auch zugute, wenn die Europäische Kommission dann doch ab und zu eine Politik zugunsten der europäischen BürgerInnen auf die Agenda setzt. Dann werden professionelle Lobbyfirmen beauftragt und Anwaltskanzleien angeheuert – da schreckt man auch vor fragwürdigen Methoden nicht zurück. So ließen sich die europäischen Chemie-Unternehmen in ihrer „Schlacht“ gegen die Europäische Chemikalienrichtlinie REACH ein Gutachten von einer Wirtschaftsberatung erstellen, das besagte, in Deutschland seien durch die Richtlinie bis zu 2,35 Millionen Jobs in Gefahr. Zum Vergleich: Die Chemieindustrie in ganz Europa stellt insgesamt 1,7 Millionen Arbeitsplätze.

In den von ALTER-EU verliehenen „Worst EU Lobby Awards 20103“ war unter anderem die Lobbygruppe für Private-Equity-Firmen EVCA nominiert: Sie hatte einen Brief an die EU-Kommission geschickt, der den Eindruck erweckte, im Namen von 700 Klein- und Mittelstandsunternehmen geschrieben worden zu sein. Die Botschaft: Die Finanzmarkt-Regulierungen schaden ihnen. Was unter den Tisch fiel, war, dass die große Mehrheit der Unterschriften von privaten Eigenkapitalfondsfirmen stammte, die teilweise oder komplett EVCA-Mitgliedern gehörten oder von ihnen finanziert wurden. Dieses Vorschieben eines angeblich neutralen Dritten, um seine Interessen glaubwürdiger vorzubringen, und das Drohen mit dem Verlust oder Abzug von Arbeitsplätzen sind zwei typische Beispiele für unlautere Lobbyarbeit, die in Brüssel immer wieder praktiziert wird, wenn es für die Unternehmen unbequem zu werden droht.

Die erfolgreiche Lobbyarbeit europäischer Konzerne beruht auf mehreren Faktoren: Privilegierte Zugänge und Sonderbehandlungen der Wirtschaft, enge Netzwerke zwischen politischen und wirtschaftlichen Eliten, ein Ungleichgewicht an Ressourcen, und, wenn es doch einmal unbequem wird, der Griff nach fragwürdigen Lobbymethoden. Die Lobbymacht der Unternehmen führt dazu, dass Profitinteressen sich häufig auf dem Rücken anderer, gesamtgesellschaftlich wichtiger Interessen durchsetzen können – wie Umwelt- und Verbraucherschutz, Gesundheit oder soziale Aspekte.

Ein Europa, das die Bedürfnisse seiner BürgerInnen in den Vordergrund stellt, muss dieses Ungleichgewicht bei der Interessenvertretung und -durchsetzung dringend bekämpfen. ALTER-EU fordert seit Jahren ein verpflichtendes Lobbyregister oder eine dreijährige „Abkühlphase“ für EU-Kommissare und hohe BeamtInnen, bevor sie in die Privatwirtschaft wechseln dürfen. Doch der Widerstand ist groß und mächtig.

Weitere Informationen auf www.alter-eu.org, www.corporateeurope.de, www.lobbycontrol.de und www.worstlobby.eu

Die Politologin Nina Katzemich war fünf Jahre lang als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Deutschen Bundestag beschäftigt und bekam dort einen praktischen Einblick, wie LobbyistInnen die Arbeit von Abgeordneten beeinflussen. Seit 2009 arbeitet sie für LobbyControl zum Thema Lobbyismus auf EU-Ebene.

1) ALTER-EU (Alliance for Lobby-Transparency and Ethics Regulation) ist ein in Brüssel aktives Netzwerk von etwa 160 verschiedenen Gruppen, die sich in Europa für mehr Transparenz und ethische Regeln beim Lobbyismus einsetzen. Mehr Informationen, z.B. die im Text erwähnten Studien, unter www.alter-eu.org.
2) ALTER-EU Studie „Eine befangene Kommission – Die Rolle der Finanzindustrie bei der Entstehung von EU-Gesetzgebung“
3) Seit 2005 verleihen die Nichtregierungsorganisationen LobbyControl, Corporate Europe Observatory, Friends of the Earth Europe und Spinwatch diesen Negativpreis an Brüsseler LobbyakteurInnen, um auf humorvolle Art zu zeigen, wie Konzerne und ihre Lobbygruppen im großen Stil mit fragwürdigen Methoden Einfluss auf die Politik zugunsten eigener Profitinteressen zu nehmen versuchen.

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