Wirklicher als die Wirklichkeit

Von Rudi Lindorfer · · 2005/07

Nicht nur Fachliteratur zeigt die Realität von Armut und Hunger auf. Der Buchhändler unseres Vertrauens empfiehlt für diesen Sommer neue Bücher, die unterhalten und aufrütteln.

Im April war ich in Indien. Die Reise wurde von der EZA-Dritte Welt, Bergheim eingefädelt und von Fair Trade-Organisationen vor Ort organisiert. Wir, 20 ÖsterreicherInnen aus Weltläden, die über das ganze Land verteilt sind, besuchten ProduzentInnen, deren Erzeugnisse, von Lederwaren über Schmuck, Textil und Specksteinarbeiten bis zum Darjeeling Tee, in unseren Weltläden gekauft werden können. Wir trafen da durchwegs selbstbewusste Frauen und Männer, deren Arbeitsbedingungen sich wohltuend vom Umfeld abhoben und wir bekamen eindrücklich mit: unsere Arbeit macht wirklich Sinn. Es war quasi eine Reise von Insel zu Insel: dazwischen Hunderttausende Menschen, die z. B. in Dehli mit Nichts, im Sinne des Wortes, auf den Gehsteigen ihr Dasein fristen.
Unsichtbar blieben für uns die Hungernden, die zwischen den Reisfeldern Westbengalens auf Brosamen der Großgrundbesitzer angewiesen sind und von denen deshalb täglich an die zehntausend nach Kolkata flüchten. (Laut FAO hungern weltweit ca. 850 Millionen Menschen, dreiviertel der Hungernden lebt dort, wo die Nahrung produziert wird: auf dem Land. Aus: FIAN, Wirtschaft global – Hunger egal?).
Diese Wirklichkeiten finden sich in nackten Daten in der Fachliteratur und, seelenschleichend, zum Mitleiden, -freuen und -leben in den Prosawerken von AutorInnen, deren Anliegen ein Aufzeigen von Umständen ist, seien sie gegenwärtig oder vergangen, und die eine fiktive Realität niederschreiben.

So wie Isabel Allende in ihrem neuen Roman „Zorro“ die Jugendjahre dieses Helden niederschreibt, ruft sie zum Aufstand gegen die Ungerechtigkeit auf, zu jeder Zeit und an jedem Ort. Wer davor die Augen verschließt, hält „nur“ ein spannendes Abenteuerbuch in Händen.
Wenn Leonardo Padura in seinem Sommer-Roman aus dem Havanna-Quartett „Labyrinth der Masken“ Teniente Mario Conde einen Mord klären lässt, schreibt er die Lebensumstände in Havanna mit, im speziellen Fall besonders die der Transvestiten. Wen die nicht interessieren, der liest „nur“ einen ausgeklügelten Krimi.
„Hunger der Gezeiten“ von Amitav Ghosh ist ein großer Roman um die Sundarbarns, dem Mündungsgebiet u. a. von Ganges und Brahmaputra, voller informativer Details zu Ökologie und Geschichte (von der Kolonialzeit bis zum Versuch von Landlosen, da einen Platz zum Überleben zu finden). Man kann auch „nur“ die bezaubernde Liebesgeschichte heraus lesen. Ebenfalls ein Lesevergnügen ersten Ranges ist Horacio Vázquez-Rials „Tango, der dein Herz verbrennt“. Ende des 19. Jahrhunderts wanderten Hunderttausende EuropäerInnen nach Argentinien aus. Glückspiel und Prostitution verhelfen (wenigen) zu raschem Reichtum und aus den Bars und Bordellen tritt der Tango seinen weltweiten Siegeszug an. Wer dem magischen Realismus nicht traut, hält „nur“ eine wunderbare Familiensaga in Händen.

Und nachdem ich jetzt „Rupien! Rupien!“ von Vikas Swarup gelesen habe (leider erscheint dieser Roman erst im August: die Geschichte eines Kellners, der 1.000.000.000 Rupien in der Millionen-Show gewinnt, aber statt des Gewinns bekommt er Gefängnis, da ihm niemand sein Wissen abnimmt) habe ich mich (wieder) gefragt, ob die Literatur nicht wirklicher als die Wirklichkeit ist. In diesem von Witz sprühenden Werk tat sich eine derart tragische Welt auf, die mir in Indien erspart geblieben ist – ich hätte diese Wirklichkeit nicht ausgehalten.
Eine wunderbare Realität ist aber, dass Fair Trade mehr ist, als „ohne Kinderarbeit hergestellt“: Er ist eine Chance, so drückt es eine Kundin aus, „seinen Konsumrausch mit gutem Gewissen ausleben zu können“ und garantiert den ProduzentInnen ein menschenwürdiges Leben. In einer solchen, gerechten Welt wird Literatur zu reiner Fiktion.


FIAN: Wirtschaft global – Hunger egal?
VSA, Hamburg 2005; 94 Seiten; EUR 6,70

Isabel Allende: Zorro
Suhrkamp, Frankfurt a. Main 2005; 440 Seiten; EUR 23,50

Leonardo Padura: Labyrinth der Masken
Unionsverlag, Zürich 2005;
270 Seiten; EUR 20,50

Amitav Ghosh: Hunger der Gezeiten
Blessing, München 2004; 464 Seiten; EUR 22,70

Horacio Vázquez-Rial: Tango, der dein Herz verbrennt
Piper, München 2005; 636 Seiten; EUR 25,60

Der Autor ist Buchhändler von Südwind Buchwelt in Wien.

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