Wolken vor der rosaroten Brille

Von Rudi Lindorfer · · 2008/07

Weil wir im Urlaub meist ohnehin auf einer Wolke schweben, können wir ruhig einen literarischen Blick in weniger entspannte Lebenswelten riskieren, meint der Buchhändler unseres Vertrauens und empfiehlt eine Reihe aufwühlender Bücher.

Im Urlaub treten wir in eine andere Welt ein. Wir lassen uns von der Zeit nicht beugen, können daher zum Beispiel auf gesunde Ernährung achten und haben Zeit zum Lesen. Eigentlich können wir all das tun, was uns im restlichen Jahr verwehrt bleibt – seien wir am Meer, auf einer Alm oder beim Flanieren durch sehenswürdige Städte. Die Menschen in den Städten sind freundlicher als wir erwartet haben, und dass am Land und in armen Ländern die Leute gastfreundlicher sind, haben wir immer schon geahnt, denn die wissen, wo das Geld herkommt – sonst würden sie uns so manche Taktlosigkeit ihrer Kultur oder ihnen persönlich gegenüber nicht nachsehen. Und sollten uns in der Fremde zu viele TouristInnen am Frühstückstisch Nachbarn sein, oder sollte uns in Kalkutta die Armut zu direkt gegenübertreten, so klagen wir, damit das Reisebüro sich in Zukunft genauer überlegt, wohin es uns vermittelt.
Um nicht in diesen Sog zu geraten, verweise ich darauf, dass folgende Bücher von hervorragender literarischer Qualität und fesselnd sind, aber gleichsam Wolken vor rosaroten Brillen heraufziehen lassen.
Fatou Diome lässt in „Ketala“ (so heißt die Erbteilung bei den Serer, der zweitgrößten Ethnie im Senegal) die wenigen Habseligkeiten der verstorbenen Memoria deren abenteuerliches Leben erzählen, etwa von der Zeit in Straßburg, wo sie bis zu ihrem Tod lebte. Ihre Halskette und einige Holzfiguren können auch aus der Zeit in Dakar berichten. Fantasievoll und oft heiter schreibt die Autorin gegen Verlogenheiten und überkommene Traditionen an.

Hart zur Sache geht es in Satiago Roncagliolos Roman „Roter April“. Vom Verlag zu Recht als psychologisch eindringlicher Thriller, als rasant, unerbittlich realistisch und nicht ohne Humor erzählter Roman angepriesen, beschreibt er die Karwoche in der barocken Provinz- und Touristenstadt Ayacucho in den peruanischen Anden. Zur gleichen Zeit finden Wahlen statt, werden Menschen ermordet; das Militär weiß, wie der Urnengang ausgehen wird, die Untergrundorganisation „der Leuchtende Pfad“ ebenso – nur der neu berufene Staatsanwalt glaubt ans Gesetz und sucht die MörderInnen.
Der US-Amerikaner Nathan Englander wählte für seinen Roman die Zeit zu Beginn der Militärdiktatur in Argentinien. Zehn Jahre lang schrieb er am Buch „Das Ministerium für besondere Fälle“, in dem ein jüdisches Ehepaar sich auf die Suche nach seinem Sohn begibt, der im „schmutzigen Krieg“ der Militärs verschwunden ist. Aufwühlend an dem Roman, in dem der Autor auch aus Verhörprotokollen zitiert, ist nicht nur die Vorgehensweise dieser Verbrecher, erschütternd ist auch, wie er die damit einhergehende (Selbst-)-Zerstörung des Ehepaares vorführt, die er öfters mit absurdem Witz erträglich zu machen versucht.

Vollends aus der Fassung könnte einen Patricia McCormicks „Verkauft“ bringen, hätte sie nicht eine äußerst behutsame Sprache verwendet, die den oftmals ausgezeichneten Roman auch für Jugendliche lesbar macht. (Ebenso sorgsam wurde das Buch von Alexandra Ernst übersetzt.) Sie schreibt über das Schicksal eines nepalesischen Mädchens, das von ihrem Stiefvater verkauft wird und in einem Bordell in Kalkutta landet. Lakshimi steht exemplarisch für ca. 12.000 Kinder, denen dieser Wahnsinn jährlich widerfährt – wenigstens im Roman tut sich für das Mädchen ein Hoffnungstürchen auf.
Ebenso unmenschliche Abgründe durchleuchtet Uzodinma Iwealas Roman „Du sollst Bestie sein“. Auch hier steht ein Kind, ein Junge, für viele, die in Afrika als Kindersoldaten zwangsrekrutiert werden, Agus lernt Plündern, Schänden, Töten. Doch manchmal blitzt durch seinen Kopf ein Gedanke an früher, als er auf eine Universität gehen, als er Arzt oder Ingenieur werden wollte. Doch dann singt er: „Soldat Soldat / kill kill kill. /So lebst du. / So stirbst du.“ Entgegen der Normalität entkommt Agus dem Wahnsinn, wenigstens physisch.
Wie Memoria, wie Lakshimi, wie die Indios in Ayacucho oder die „Verschwundenen“ in Argentinien hatte Agus kurz einen Traum von einem Leben, in dem es z. B. so etwas wie Urlaub gibt.

Fatou Diome
Ketala
Diogenes, Zürich 2007; 253 Seiten; € 19,50

Santiago Roncagliolo
Roter April
Suhrkamp, Frankfurt am Main 2008; 333 Seiten; € 20,40

Patricia McCormick
Verkauft
Fischer Schatzinsel, Frankfurt am Main 2008; 312 Seiten; € 14,30

Nathan Englander
Das Ministerium für besondere Fälle
Luchterhand, München 2008; 465 Seiten; € 20,60

Uzodinma Iweala
Du sollst Bestie sein
Ammann, Zürich 2008; 157 Seiten; € 19,50

Rudi Lindorfer ist Buchhändler bei Südwind-Buchwelt und lebt in Wien.

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