Ich bin stolz, heute hier zu sein. Schließlich hat mein Bruder hier gekämpft“, sagt Phung Thi Suong. Ihre Worte sind kaum zu vernehmen vor dem Hintergrund des riesigen Feuerwerks, mit dem das Fest am Abend des 13. März 2004 am Hauptplatz von Dien Bien Phu zu Ende geht. Vor genau 50 Jahren begann an diesem Tag die Entscheidungsschlacht der Viet Minh-Truppen gegen die französischen Kolonialherren. 55 Tage dauerten die Kämpfe, am 7. Mai zogen die Franzosen die weiße Fahne hoch.
Zum Jubiläum des Sieges sind in der Stadt im Nordwesten Vietnams, unweit der Grenze von Laos, große Feiern anberaumt worden. Noch vor dem Jahrestag wurde auch das Museum wieder eröffnet, in dem mit Fotos und Exponaten die unglaubliche logistische Leistung der Vietnamesen dokumentiert wird. Mit eigens dafür gebauten Fahrrädern, die mit bis 300 Kilogramm schweren Lasten beladen werden konnten, und purer Körperkraft wurden Nachschub und Geschütze durch dicht bewaldetes, bergiges Terrain transportiert.
Schon im März sind auf Einladung der Regierung in Hanoi zahlreiche Veteranen nach Dien Bien Phu gekommen, solche aus dem Krieg gegen die Franzosen wie auch jüngere, die erst später im Krieg gegen die US-Amerikaner kämpften. Phung Thi Suongs Bruder ist nicht unter den Anwesenden. Er ist 1972 im „Amerikanischen Krieg“ gefallen, wie der im Westen als Vietnam-Krieg bezeichnete Konflikt hier genannt wird. Im kommenden Jahr, am 30. April 2005, jährt sich zum 30. Mal der Fall Saigons, mit dem die Vietnamesen ihren Sieg besiegelten und die Grundlage für die Wiedervereinigung des Landes legten.
Aber Phung, eine Lehrerin, die selbst erst ein Jahr nach dem Sieg von Dien Bien Phu geboren wurde, verweilt nicht lange bei Triumph und Trauer. Sie freut sich darüber, dass der 13. März mit einem Kulturfest und der Eröffnung des Tourismusjahres „Visit Dien Bien Phu 2004“ begangen wurde. Eine internationale Handels- und Tourismusmesse sowie diverse Kulturfestivals werden stattfinden. „Das wird die Wirtschaft in der Region beleben. Neue Arbeitsplätze werden geschaffen“, erklärt Phung und fügt geschäftstüchtig hinzu: „Wenn Sie ein Taxi brauchen, ich habe ein Moped und kann Sie gerne chauffieren.“
Das eigene Moped als Taxi anzubieten ist eine von vielen Nebenerwerbsquellen im heutigen Vietnam, in dem laut Angaben des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) aus dem Jahre 2002 mehr als 80 Prozent der Erwerbstätigen in zumindest einem von zwei oder drei Jobs, die sie über das Jahr hinweg ausüben, selbständig sind. Mehr als 90 Prozent aller Haushalte beziehen demnach einen Teil ihres Einkommens aus selbständiger Arbeit, aus landwirtschaftlicher Produktion, winzigen Läden, Straßenhandel oder Garküchen.
Die Voraussetzung dafür wurde mit der 1986 lancierten Doi Moi-(Erneuerungs–) Politik geschaffen. Ein Jahrzehnt nach der Wiedervereinigung und einem vom Norden auf das gesamte Land übertragenen sozialistisch-planwirtschaftlichen Modell ging die Führung unter dem Druck einer akuten Krise mit 775-prozentiger Inflation zur Marktwirtschaft über. Die Kooperativen, gegen die es besonders im Süden massiven Widerstand gab, wurden aufgelöst, Land individuell an Bauern verpachtet, die Preise liberalisiert. Die Deregulation in der Landwirtschaft und anderen ländlichen Sektoren „war dabei der zentrale Faktor für die Verringerung der Armut von mehr als 70 Prozent der Bevölkerung Mitte der 80er Jahre auf 29 Prozent heute“, betont die UNO Ende 2003 in einem Bericht.
„Der einstige Widerstand gegen die ausländische Aggression war sehr ruhmreich, die nationale Unabhängigkeit aber wäre bedeutungslos, wenn sie nicht das Wohlergehen der Bevölkerung und die Stärke des Landes sichern könnte“, schrieb dazu Nguyen Thu My, Professor am Nationalen Zentrum für Sozial- und Geisteswissenschaften in Hanoi, 2003. Angesichts des rasanten Aufstiegs der ostasiatischen Tigerstaaten hätten „manche Vietnamesen Fragen über den von der KP gewählten Entwicklungsweg aufgeworfen … Mit den Nachbarn Schritt zu halten, wurde zum ständigen Anliegen der vietnamesischen Führung“, betonte Nguyen.
„Wir aßen Blätter; es gab monatelang keinen Reis“, erinnert sich eine Ärztin an die Zeit vor Doi Moi. „Nie hätten wir gedacht, dass es uns so schnell so gut gehen könnte“, anerkennt ein Akademiker die Entwicklung seit Doi Moi, die auch international Beachtung gefunden hat. „Ich kenne kein anderes Land, das in so kurzer Zeit mehr Familien aus der Armut befreit hat. Dafür bewundere ich Vietnam“, sagt Charles Bailey, der das Büro der US-amerikanischen Ford Foundation in Hanoi leitet. Schon Jahre vor der Aufhebung des US-Handelsembargos gegen Vietnam 1994 und der Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen wurde die Ford Foundation in Vietnam tätig. „Hanoi lud uns ein, zu kommen“, betont Bailey. Kurz nach Doi Moi habe die Regierung begonnen, sich ganz gezielt an internationale Nichtregierungsorganisationen (NGOs) zu wenden, um sich ihre Unterstützung im Entwicklungsprozess zu sichern.
Die Ford Foundation engagiert sich bei Armutsbekämpfung, Gesundheit und Bildung. Im Oktober 2003 sponsorte sie dazu eine hochrangige Konferenz über das Verhältnis zwischen Washington und Hanoi. Auch wenn man von VietnamesInnen heute kaum ein schlechtes Wort über die US-Amerikaner hört und der Krieg als der Vergangenheit angehörig erklärt wird, sind die Folgen längst nicht überwunden. Anfang dieses Jahres hat sich erstmals eine „Vereinigung der Opfer von Agent Orange“ gebildet, jenes Giftstoffes also, den die US-Armee im Krieg zur Entlaubung eingesetzt hatte und in dessen Folge bis heute missgebildete Babys geboren werden. Im Namen dreier Opfer hat die Vereinigung nun eine Klage gegen jene US-Firmen eingereicht, die das Dioxin für Agent Orange produzierten.
So wie die Ford Foundation sind heute unter strenger Kontrolle des Regimes Hunderte ausländische NGOs in Vietnam tätig. Auf vietnamesischer Seite kontrollieren staatliche Organe und Massenorganisationen wie die Frauenunion, der Jugend- oder Bauernverband den Entwicklungsprozess. Unabhängige Organisationen werden so wie Religionsgemeinschaften als potenzielle Gefahr für die Staatsmacht gesehen. Die KP will das Ruder fest in der Hand behalten. So viel von Doi Moi die Rede ist, so wenig ist heute noch von jenem politischen Frühling Ende der 1980er Jahre zu hören, der angesichts des Umbruchs in Osteuropa rasch wieder beendet wurde.
Die Menschenrechtslage in Vietnam hat sich nach Angaben der in New York ansässigen Organisation Human Rights Watch (HRW) weiter verschlechtert. Das Regime hat 2003 „Dutzende Buddhisten, politische und Cyber-Dissidenten sowie Christen, die ethnischen Minderheiten angehören, verhaftet“, heißt es in einem Ende 2003 veröffentlichten Dokument, mit dem HRW die Geberländer drängte, die Einhaltung der Menschenrechte in Vietnam mit mehr Nachdruck einzufordern.
Seit Doi Moi ist Vietnam, das in den 1980er Jahren noch Reis importieren musste, zum weltweit zweitgrößten Reis- und einem führenden Kaffeeexporteur geworden. Bei allen Fortschritten bleiben aber genügend Probleme. Die Armut wird in Vietnam am Reisbedarf und -preis gemessen, die Armutsgrenze liegt je nach Region zwischen 80.000 und 150.000 Dong (fünf bis zehn US-Dollar) pro Person pro Monat. Würde man die Armutsgrenze um nur einen Dollar pro Person pro Monat erhöhen, so würde die Zahl der in Armut lebenden Menschen sofort von 29 auf über 35 Prozent ansteigen, betont die UNO.
Auch die Kluft zwischen Arm und Reich sowie zwischen Land und Stadt ist stark gewachsen. Der Nahrungsmittelmangel unter den Ärmsten der Armen, insbesondere den ethnischen Minderheiten, hat sich laut UNO seit 1999 in den meisten Regionen des Landes verschlimmert. So leben mehr als 75 Prozent der BewohnerInnen der Provinz Lai Chau im Nordwesten in Armut, während es in Ho Chi Minh-Stadt weniger als fünf Prozent sind. Angesichts der großen Herausforderungen für Vietnam vermerkt das UNDP eine Änderung als besonders positiv: Die 2001 angenommene sozioökonomische Entwicklungsstrategie verschiebt das Schwergewicht weg vom langfristigen Ziel, ein moderner Industriestaat zu werden. Der Fokus liegt nun auf dem Wohlergehen der Menschen. Um das zu erreichen, wäre freilich eine wesentlich größere Partizipation der Menschen an der Basis erforderlich, dazu mehr Transparenz und Verantwortlichkeit. Entsprechende Dekrete gibt es bereits. Doch Worte, die vietnamesische GesprächspartnerInnen immer wieder benutzen, lauten: „Legally…, but actually…“ – „Laut Gesetz…, aber tatsächlich …“