Zerreißprobe für den Vielvölkerstaat

Von Hakeem Jimo · · 2002/02

Seit dem Anschlag vom 11. September nehmen ethnische Konflikte in Nigeria zu, und das friedliche Zusammenleben von Muslimen und Christen ist massiv gestört.

Die Afroamerikanerin empört sich darüber, dass ihr Tischnachbar, ein Engländer, sich in Afrika unwidersprochen so aufführen kann – gebieterisch nach alter Kolonialherren-Manier. Eine Kellnerin des Restaurants stimmt ihr zu, sagt aber, hier in Jos seien die Menschen äußerst friedliebend und gingen Streitigkeiten aus dem Weg. Ein Monat später: Die Stadt in Nigeria wird von religiösen Pogromen heimgesucht. Muslime und Christen gehen im September mit Macheten und Benzin aufeinander los. Augenzeugen berichten, wie jugendliche Muslime einen Tag nach den Terroranschlägen in Amerika am 11. September wie aufgeputscht ans Mordwerk gingen. Die Antwort der Christen ist nicht so, wie es das neue Testament gebietet. Keine andere Wange wird hingehalten, dafür aber wie in einem Blutrausch der Tod von Muslimen in der christlich dominierten Stadt gesucht.
Der religiöse Hass in Nigeria macht auch vor den friedfertigen BürgerInnen in Jos keinen Halt.

Die junge Demokratie Nigerias bebt seit ihrem Beginn vor zweieinhalb Jahren unter einer Welle religiös und ethnisch motivierter Gewalt. Und was noch schlimmer ist: Die Gewaltausbrüche sind nicht mehr nur zufällig, sondern werden anscheinend lange geplant. Eigens aufgestellte muslimische Todesschwadronen rächten sich zum Jahreswechsel, nach Polizeiangaben, an einem kleinen christlichen Dorf für die Ermordung Angehöriger ihrer Volksgruppe vor mehr als drei Monaten in Jos. Noch einmal starben mehrere dutzend Menschen.
Auch die teils aufgetauchten, schwer zu beschaffenden automatischen Waffen deuten auf ein System hin. Die Blutspur zieht sich durch das ganze Land, das gut elf Mal so groß ist wie Österreich. Hauptsächlich jene Regionen und Städte sind am meisten betroffen, in denen christliche Völker des Südens und der geografisch mittleren Regionen auf den nahezu monolithischen islamischen Block der Haussa-Fulani aus Nordnigeria stoßen. Aber auch das Nigerdelta, wo der Reichtum des Landes, nämlich Erdöl, herkommt, ist immer wieder Schauplatz von Unruhen.

Bislang eher unbekannt, nehmen auch rein ethnische Konflikte zunehmend größere Dimensionen an: wie die Unruhen im vergangenen September zwischen den Tiv und den Jukun mit mehreren tausend Toten und Zigtausenden Vertriebenen. Schutz vor Gewalt können die Sicherheitskräfte nicht bieten. Nicht nur haben sie ihre Neutralität eingebüßt – sie sind auch Teil des Gewaltsystems: In der Tiv-Jukun-Krise starteten Militärs eine Vergeltungsaktion für zuvor umgebrachte Soldaten: Die Strafexpedition forderte Hunderte Opfer, darunter Frauen, Kinder und Alte. In den Städten Jos, Kaduna und Kano im nördlichen und mittleren Nigeria, wo es die schwersten Zusammenstöße zwischen Muslimen und Christen gab, warfen Beobachter der überforderten Polizei Parteilichkeit vor.

Das Zusammenleben der verschiedenen Volksgruppen und Religionen steht auf dem Spiel, und dadurch auch die Einheit der bevölkerungsreichsten Nation des Kontinents. Die Stadt Kaduna ist schon jetzt praktisch geteilt. Viele NigerianerInnen zeigen keine Solidarität mit Volksgruppen aus anderen Teilen des Landes – wahrscheinlich gab es auch nie ein tief verwurzeltes Nationalgefühl. Es war zumeist die politische und privilegierte Klasse, die an der Einheit des 120-Millionen-Einwohner-Staates festhielt – aus zumeist machtpolitischen und eigennützigen Interessen.
Aber seit mehreren Morden an ranghohen nigerianischen Funktionären in den vergangenen Monaten kann sich auch das politische Establishment nicht mehr sicher fühlen – vor allem VertreterInnen der Justiz scheinen besonderer Gefahr ausgesetzt: Der Justizminister und Generalbundesanwalt in einer Person, James Abolaji Ige, wurde am Tag vor Heiligabend in seinem Haus in Ibadan erschossen. Zwei Wochen später erstachen Unbekannte auch einen hohen Berater des obersten Richters Nigerias. Der zuvor ermordete Abolaji Ige ist damit der höchste Vertreter Nigerias, der Opfer politisch motivierter Gewalt wurde. Der Mord an Ajibola Ige bedeutet einen schweren Rückschlag für die Regierung von Olusegun Obasanjo und die junge Demokratie Nigerias. Der ermordete 71-jährige galt nicht nur als enger Gefolgsmann des Präsidenten und wichtige Stütze in seinem Kabinett. Der gelernte Jurist war auch international anerkannt und sollte im Jänner beginnen, Afrika in der „Internationalen Rechtskommission“ der Vereinten Nationen in New York zu vertreten. Die Gründe für den Mord sehen viele in einem internen Machtkonflikt in Iges Heimatbundesstaat Osun. Es gibt aber auch Stimmen, die Schuldige aus anderen Teilen des Landes ausmachen. Denn der ermordete Generalbundesanwalt und Justizminister galt als wichtiger Kritiker der Einführung des islamischen Rechts, der Scharia, in mehreren nordnigerianischen Bundesstaaten, der in diesem juristischen Prozedere eine entscheidende Rolle hätte spielen können.

13 der 36 Bundesstaaten Nigerias haben den islamischen Straf- und Wertekodex als offizielles Gesetz übernommen. JuristInnen streiten noch, ob die Einführung der Scharia als Landesgesetz dem säkularen Gedanken der übergeordneten nigerianischen Verfassung widerspricht.
Trunkenbolde sollen durch die Scharia zum gottesfürchtigen Lebenswandel erzogen, Prostituierte von der Straße vertrieben und Diebe von ehrlicher Arbeit überzeugt werden. Wer dagegen verstößt, dem drohen drakonische Strafen. Ein Viehdieb war der erste, dem eine Hand abgehauen wurde. Ein minderjähriges Mädchen erlitt vor einem Jahr 80 Peitschenhiebe, weil sie ein uneheliches Kind geboren hatte. Wobei es klare Anzeichen gab, dass sie missbraucht wurde. Ein Mann im Kebbi-Bundesstaat wurde wegen Sex mit einem Siebenjährigen der erste zum Tode Verurteilte. Der Vollzug steht noch aus.
„Die Art und Weise, wie die Scharia in vielen Bundesstaaten eingeführt wurde, gefährdet ein friedliches Zusammenleben von Muslimen und Christen“, sagt Bischof Kehinde Stephen, Sprecher des Verbandes der Christen in Nigeria. Stephen verurteilt, dass Christen in Scharia-Bundesstaaten um viele ihrer Freiheiten beraubt seien – trotz ständiger Beteuerungen von muslimischer Seite, dass Nicht-Muslime von der Scharia nicht betroffen seien. VertreterInnen der nigerianischen Muslime, wie der Generalsekretär des nigerianischen Rates für islamische Angelegenheiten, Lateef Adegbite, halten den KritikerInnen entgegen, dass die Scharia die um sich greifende Kriminalität und Sittenlosigkeit eindämmen würde. Jedoch können erste Statistiken der Polizei diese Hoffnung nicht bestätigen.

Präsident Olusegun Obasanjo bezeichnet die Scharia-Welle als politisches Drohinstrument, mit dem sich gewisse Leute im Norden wieder mehr Einfluss in der Zentralregierung erzwingen wollen, ohne Rücksicht auf die Stabilität des Landes. Seit der Unabhängikeit von England war es vor allem die politische Elite Nordnigerias, die die jeweiligen Regierungen und Militärregime stützte.
Obasanjo, der seit über zwanzig Jahren erste christliche Präsident Nigerias, vermutet hinter allen Unruhen im Land dubiose, teils kriminelle Individuen, die sich unpatriotisch verhielten. Von der Forderung aus unterschiedlichsten Teilen der Gesellschaft nach einer Nationalkonferenz will Obasanjo immer noch nichts hören. GegnerInnen einer Nationalkonferenz, wie eben der Präsident selbst, befürchten eine nicht mehr kontrollierbare Zerreißprobe für die Einheit des Landes. Eine Nationalkonferenz, so erhoffen sich die vielen BefürworterInnen, würde das Zusammenleben des Vielvölkerstaates mit seinen 120 Millionen EinwohnerInnen grundsätzlich und gleichberechtigt neu verhandeln.

Hakeem Jimo ist Westafrika-Korrespondent der Berliner Tageszeitung „taz“ mit Sitz in Cotonou (Benin).

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