Ziegenmilch und Internet-Cafés

Von Günter Spreitzhofer · · 1999/11

Die immer noch vorwiegend agrarische Gesellschaft der Mongolei bemüht sich um einen sanften Aufbruch in die Moderne. Die Wiederentdeckung des Nachbarn China eröffnet der mongolischen Transformation neue Perspektiven.

Are you an independent traveller?“ Der Frager nennt sich Mr. Bold und hat den Individualtourismus in Ulan Bator seit 1997 fest im Griff. Mit englischsprechenden Mitarbeitern an Bahnhöfen und Flughäfen, Internetadresse und einem Netz von Kontakten bis in die Wüste Gobi mietet der untersetzte Mittvierziger jeden Sommer Appartments im Zentrum der Hauptstadt, um sie bettenweise an Rucksacktouristen weiterzuvermieten – dann, wenn die Städter ohnedies in ihre luftigen Gers (Jurten) am grünen Stadtrand der grauen Metropole ziehen. Tourismus sei derzeit der einzige Weg aus dem wirtschaftlichen Schlamassel, meint Bold, nebenberuflich Dolmetsch und einst Prediger in Oklahoma, bevor sein Handy wieder klingelt.

Ulan Bator zumindest ist kaum wiederzuerkennen. Die Zeit der schwarzen Wolgas scheint abgelaufen, Mercedes und Opel – oft noch mit deutschen Aufklebern – beherrschen das Straßenbild rund um den zentralen Sukhbataar-Platz. Internet-Cafčs schießen aus dem Boden. Dschingis Beer gibt es längst auch außerhalb der exklusiven Hinterhofbars in der Gegend des Rundfunkgebäudes, und mit Scroll’s Book Shop öffnete vergangenes Jahr die erste englischsprachige Buchhandlung.

Sachers Café lockt seit April mit pseudoalpinem Dekor, verjährten Bunte-Illustrierte-Ausgaben und ausgedörrten Phantasietorten, deren Geschmack selten zum Namen paßt. Eine Tasse ‚Österreichischer Kaffee‘ wird um 1800,- Tugrik (23,- öS) angeboten, das entspricht den Kosten für drei Mittagessen in der Truckerabsteige oder fast für ein Steak im Galerierestaurant vor dem Nationaltheater. Man spricht sächsisches Deutsch hier, nicht nur das mongolische Personal im rosa-weißen Dirndl-Look.

Ungefähr 2,5 Millionen EinwohnerInnen hat das Land, davon leben 700.000 in Ulan Bator. Eine Verringerung der Unterschiede zwischen Stadt und Land scheint kein vorrangiges politisches Ziel zu sein. Von ein paar schlaglöchrigen Asphaltstraßen um die Hauptstadt abgesehen, gibt es auch 1999 nur holprige Pisten durch den Steppenstaat. Der öffentliche Verkehr westwärts endet nach rund 600 Kilometern oder 23 Stunden auf Staub-, Schlamm- oder Schneepisten gänzlich.

Die Westprovinzen an der russisch-kasachischen Grenze sind nur durch russische Antonov 24-Propellermaschinen der staatlichen Fluglinie MIAT („Maybe it arrives today“) oder mit Lastwagen und Privatjeeps erreichbar – sofern nicht wieder der große russische Bruder die Benzinhähne zudreht und Treibstoff nur mehr am Schwarzmarkt zu europäischen Preisen erhältlich wird.

Von Dzalangabad, der südlichen Provinzhauptstadt inmitten der Wüste Gobi, bis Moron, hoch im Norden am Rande der Nadelwälder um den Khovskol-See gelegen: Das „städtische Flair“ beschränkt sich auf ein paar verfallende sozialistische Plattenbauten. Ansonsten dominieren Jurtensiedlungen in Reih und Glied, versteckt hinter mannshohen Bretterzäunen als Sicht- und Windschutz. Märkte, wo es Zwiebel und Kartoffel, aber nicht einmal eine Spur von Obst gibt. Kioskläden, wo Import-Pepsi, lettische Fischkonserven, polnischer Paprikasalat und russisches Bier in 1,5-Liter-Plastikflaschen die Regale spärlich füllen. „Baikalski“, russisches Mineralwasser, kostet so viel wie vier Laib Brot.

Pferde sind häufiger zu sehen als Autos, die bis zum Zusammenbrechen gefahren werden. Der einzige öffentliche Bus von Moron in die Hauptstadt – ein oranges russisches Modell der Ära Chruschtschow – fährt immerhin zweimal wöchentlich ab; sofern er sich starten läßt, sich genug Passagiere finden, die Ziegen am Dach Platz haben und der Fahrer am Vorabend nicht zu sehr Gefallen am mongolischen Wodka, einem vergorenen Ziegenmilchgetränk, gefunden hat. Hier ist von der „Transformation“ nichts zu bemerken.

Auch neun Jahre nach der Wende von 1990 läßt die Moderne auf sich warten. Jurten und Yaks, fette Weiden und öde Steppen, sandige Wüsten und die kahlen Gipfel des Altai: 46% der Bevölkerung leben von und mit der Viehzucht. Immer noch bilden über 170.000 Nomadenhaushalte mit etwa 30 Millionen Tieren das Rückgrat einer agrarischen Gesellschaft, die weitgehend autark ist.

Selbst nach Regierungsstatistiken leben 36,8 Prozent der Stadtbevölkerung und 27,5 % der Landbevölkerung unter der Armutsgrenze, die mit einem monatlichen Durchschnittseinkommen von umgerechnet18 US-$ definiert ist.

Über 60 % der Budgetausgaben entfallen auf Nahrung, die zunehmend auf Importprodukten aufbaut; die ohnehin geringe Getreideproduktion ist auf weniger als die Hälfte der letzten Blütejahre des Kommunismus gefallen.

Die Flucht in den Wodka ist Ausdruck zunehmender Orientierungslosigkeit: Allein in der Hauptstadt wurden 1997 56.852 Betrunkene in polizeilichen Gewahrsam genommen. Präsident Bagabandi selbst spricht in diesem Zusammenhang von einer „potentiellen Bedrohung der nationalen Sicherheit“.

Die frühe Euphorie der neunziger Jahre ist jedenfalls verflogen. Die Inflation beträgt seit der Wende über 100 %, das Bruttoinlandsprodukt ist von 1990 bis 1995 um durchschnittlich 3,3 % im Jahr gesunken. Die Auslandsverschuldung lag 1996 bei 524 Millionen US-Dollar, der Kursverfall der Landeswährung Tugrik hält an. Haupthandelspartner ist immer noch Rußland, aus dem 34% aller Importe (Maschinen, Transportausrüstung, Treibstoffe) bezogen werden.

Mit China begann Ende 1998 eine neue Ära der über Jahrzehnte spannungsreichen Beziehung: beim historischen Treffen der Staatspräsidenten Bagabandi und Jiang Zemin in Peking Die Staatsbesuche höchstrangiger chinesischer und japanischer Delegationen im Juli dieses Jahres dokumentieren die versuchte Neuorientierung weg vom unverläßlichen Partner GUS.

Erfolgreich verhandelt wurde die Errichtung einer Gas-Pipeline zwischen Nordchina und Ostsibirien sowie eine chinesisch-mongolische Ölraffinerie. Japan sagte Wirtschaftshilfe im Nahrungssektor zu.

Von der Mongolischen „Partei der Volksrevolution“, den Ex-Kommunisten, zu Beginn dieses Jahrzehnts begonnen, wurde die ökonomische Liberalisierung erst mit der 1996 gewählten Regierung der „Demokratischen Koalition“ in Schwung gebracht: Abgesehen von 51%igen staatlichen Mindestanteilen an den nationalen Schlüsselunternehmen MIAT (Fluglinie), Gobi Kashmere (Teppiche) und zahlreichen Kraftwerken wäre sogar ausländischer Vollbesitz an Unternehmen möglich. Internationale Investoren hätten es so leicht wie nie zuvor, doch die Privatisierung läuft nur langsam an. Die Infrastruktur außerhalb Ulan Bators ist alles andere als attraktiv. Die rohstofforientierte Wirtschaft leidet zusätzlich unter dem Verfall der Weltmarktpreise für Kupfer, Gold und Kaschmirwolle, den Hauptexportprodukten des Landes, die die Hälfte der Deviseneinnahmen ausmachen.

Die innenpolitische Situation war ebensowenig dazu angetan, den Wirtschaftskurs zu stabilisieren und neue Impulse zu setzen. Im Vorjahr erlebten die MongolInnen drei Regierungen und drei Premierminister, allesamt aus der labilen „Demokratischen Koalition“ aus vier Parteien, die seit 1996 50 der 76 Sitze des Ikh Hural (Parlament) belegen.

Die Mongolei ist ein junges Land mit einer jungen Bevölkerung: 40% sind jünger als 16, und die sind offen für westliche Kulturen und Trends, für Chicago Bulls und Madonna. Die buddhistische Tradition mag, trotz aller politischer Turbulenzen des Vorjahres, den vergleichsweise friedlichen Übergang in Richtung Marktwirtschaft begünstigt haben. Der Rückenwind neuer wirtschaftlicher Partnerschaften in Ostasien sollte die Mongolei mittelfristig stabilisieren. Doch derzeit boomt nur Ulan Bator, mit Pagern und Designersakkos. Mr. Bold zumindest hat es bereits geschafft.

Der Autor ist Geograph und arbeitet an der Universität Wien. Er bereiste kürzlich die Mongolei.

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