Das goldene Korn der Götter

Von Nives Gobo (Text) und Erwin Slim (Fotos) · · 2005/05

Der Mais, Mexikos Kulturpflanze Nummer Eins und nationaler Mythos, wird bedroht durch Freihandel und Gentechnik. Doch es regt sich bäuerlicher Widerstand.

Aus den Häusern in den mexikanischen Dörfern dringt oft der verführerische Duft heißer, handgemachter Tortillas, die von den Frauen auch heute noch gemäß der alten Tradition gebacken werden. Einfache Imbissstände in den lebhaften Straßen der mexikanischen Hauptstadt bieten eine Fülle an schmackhaften Gerichten an: Quesadillas, Gorditas und Enchiladas. Alle diese Gerichte haben eine Zutat gemeinsam: den Mais. Er ist das Geschenk der Götter an Mexiko und das heilige Gold seiner Bevölkerung. Er bestimmt das Leben der Menschen, die ihn anbauen, vermarkten, verarbeiten und rund um ihn ihre religiösen Aktivitäten und Feste zelebrieren. Er ist die bewegende Kraft im Leben der Bauern, essenzielles Symbol der indigenen Rituale und Glaubensvorstellungen, er ist Teil der mexikanischen Poesie, Kunst und Kultur. Der Mais ist die Wurzel der Geschichte Mexikos, das treibende Element seiner Kulturen und die Essenz der Identität seines Volkes.
Vor Tausenden von Jahren wuchs der wilde Vorfahre des heutigen Mais, der teocintle (Zea diploperennis), in dem grünen, fruchtbaren Gebiet des Tehuacán-Tales im Gebiet des heutigen Bundesstaates Puebla. Nachdem die ersten Jäger- und Sammlergesellschaften den teocintle kultiviert hatten, begann für den Mais eine lange, sich durch Jahrtausende hindurch ziehende Kulturgeschichte, die ihn in verschiedene Zivilisationen, Länder und Kontinente brachte. Dabei war seine Entwicklung immer von der schöpferischen Kraft der Menschen abhängig, denn der Mais kann sich ohne Pflege nicht weiterentwickeln.
Während der prä-klassischen Epoche (3000-200 v. Chr.) war der Mais ein zentrales Element innerhalb des Handels- und Wirtschaftssystems und der Spiritualität der Menschen Mesoamerikas. Der Reichtum, die Gesellschaft, die Staatsmacht und die Religion wurden von der symbolischen Kraft des Mais gelenkt. Er wurde verspeist, in komplexen Ritualen geehrt und an die Götter geopfert, er war ein wichtiges Handelsgut und galt als Rohstoff für die Herstellung von Alltags- und Zeremonialobjekten.
Heute säen und ernten die mexikanischen Landwirte 16 verschiedene Maisarten: Goldene, weiße, rote, schwarze und blaue Körner werden von den Frauen durch Schälen, Mahlen, Rösten, Kochen und Backen zu unterschiedlichsten Gerichten verarbeitet.
Für die mexikanische Mestizenbevölkerung und alle indigenen Gemeinschaften des Landes ist der Mais nicht nur das wichtigste Grundnahrungsmittel der täglichen Ernährung, sondern er stellt auch heute noch eine mächtige Kraft im sozialen, ökonomischen und religiösen Leben dar. Die Mexikaner sind aus dem Mais gemacht, sie sind seine Kinder – diese in Mexiko sehr stark verbreitete Vorstellung geht auf das Weltbild der alten Hochkulturen zurück, die einst diesen Kontinent bewohnten. Für sie war der Mais das heilige Gold der Götter. Der tiefe Glaube an die große Macht des goldenen Korns manifestierte sich in vielen mythologischen Erzählungen, in denen der Mais als Urgrund der Entstehung der Menschen dargestellt wird.
Im alten Mexiko waren die landwirtschaftlichen Tätigkeiten mit komplexen Ritualen verbunden; die Bäuerinnen und Bauern richteten das Säen, Pflanzen und Ernten des Mais zeitlich genau nach dem alten mesoamerikanischen Kalender aus. Dieses Wissen um die traditionelle Landwirtschaft hat sich in vielen Teilen Mexikos bis zum heutigen Tag erhalten. Mit der milpa, dem Feld, ist eine eigene Lebensform der bäuerlichen Bevölkerung verbunden, die sowohl soziale, ökonomische wie auch spirituelle Faktoren umfasst. Frauen und Männer leben in Einklang und in ständigem Austausch mit der Erde, um für sich und die Gemeinschaft reiche Früchte, Samen und Pflanzen hervorzubringen.
Gentechnologie – eine schleichende Bedrohung. Der Mais ist heute eines der wichtigsten Anbauprodukte Mexikos. Jedes Jahr werden 20 Millionen Tonnen geerntet, Mais hat den viertgrößten Flächenbedarf an bewirtschaftetem Boden. Doch obwohl Mexiko seine Bevölkerung mit eigenem Mais von den fruchtbaren, ertragreichen Feldern des Landes versorgen könnte, werden aufgrund des 1994 abgeschlossenen Freihandelsabkommens zwischen Mexiko, den USA und Kanada (NAFTA) jährlich sechs Millionen Tonnen des Getreides importiert.
Im Zuge des von der Weltbank initiierten Programms der „Grünen Revolution“ wurden im Jahre 1960 in den USA die zwei Genmaissorten MaisRR und Bt entwickelt, die heute von den fünf transnationalen Konzernen Monsanto, Bayer, Dupont, DowAgrosciences und Syngenta vermarktet werden. Diese Firmen haben ein Patent auf ihre Produkte.
Im Jahre 1998 begannen die USA – ohne rechtliche Basis – Mischungen aus diesen gentechnisch manipulierten Maissorten und herkömmlichem Mais an Mexiko zu verkaufen. Auf diese Weise infiltrierte das „chemische Getreide“ die ländlichen Gebiete des Landes. Heute bestehen 30% des mexikanischen Maissaatguts aus gentechnisch veränderten Maissorten. Im teocintle, der „Mutter aller Maiskolben“, sind Gene der manipulierten Maissorten aus den USA gefunden worden, und viele Felder in den südlichen Bundesstaaten Oaxaca und Puebla sind bereits jetzt stark von den Pollen des Genmais verunreinigt.
Die grüne Revolution und die damit verbundene Einfuhr von gentechnisch verändertem Mais hatten auf die mexikanische Gesellschaft und ihre traditionelle Landwirtschaft einen „nachhaltigen“ Einfluss, allerdings in negativer Hinsicht. Der Preis für Mais ist so niedrig, dass viele Bauern sich gezwungen sehen, ihren Grund und Boden zu verkaufen. Sie verlassen die Erde ihres Ursprungs, wo ihre Vorfahren seit Jahrhunderten gelebt und gearbeitet hatten, und wandern in städtische Gebiete ab– oder sie wagen den Sprung in den verheißungsvollen „Norden“, die Vereinigten Staaten.
Doch der Widerstand wächst. Seit Jahren entwickeln die mexikanischen Bauern und Bäuerinnen und die indigenen Gemeinschaften Strategien, um der Verbreitung von Genmais Grenzen zu setzen. Sie versuchen, ihre Ernteerträge zu erhöhen. Um den niedrigen Preis wettzumachen, vergrößern sie die Anbauflächen. Sie schließen sich in Organisationen zusammen, um ihre Produktion zu steigern, aber auch um einen gemeinsamen sozial-politischen Kampf zu führen. Und sie machen die Öffentlichkeit immer wieder auf die Risiken, die der Maisanbau mit gentechnisch manipuliertem Saatgut in sich birgt, aufmerksam.
Im Februar 2005 wurde in Mexiko ein Gesetz verabschiedet, das den Handel mit und den Anbau von gentechnisch veränderten Pflanzen grundsätzlich erlaubt und das in der Öffentlichkeit alsbald als „Monsanto-Gesetz“ bezeichnet wurde. Eigentlich hätte es ein Gesetz zum Schutz der Biodiversität werden sollen, doch gaben die verantwortlichen mexikanischen Politiker offenbar dem Druck aus dem Norden nach und verkehrten den Gesetzesinhalt ins Gegenteil.


AutorenInfo: Nives Gobo studiert Anthropologie in Wien und verbrachte im Rahmen ihres Studiums zwei Jahre in Mexiko. Derzeit Ausbildung zur diplomierten
Lateinamerikanistin und Tätigkeit als freie Journalistin. Erwin Slim lebt und arbeitet als Fotograf und Dokumentarfilmer in Mexiko.

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